Bruchstück

Werktitel
Bruchstück
Untertitel
Für großes Orchester
KomponistIn
Entstehungsjahr
2007
Dauer
30m
Genre(s)
Neue Musik
Subgenre(s)
Modern/Avantgarde
Gattung(en)
Orchestermusik
Besetzung
Orchester
Besetzungsdetails

Orchestercode: 4/4/4/4 - 8/4/4/2 - 4 Perc - 16/14/12/10/8
Flöte (4), Oboe (4), Klarinette (4), Fagott (4), Horn (8), Trompete (4), Posaune (4), Tuba (2), Perkussion (4), Violine (30), Viola (12), Violoncello (10), Kontrabass (8)

ad Flöte: 3. und 4. auch Piccoloflöte
ad Oboe: 4. auch Englischhorn
ad Fagott: 4. auch Kontrafagott

Detailbesetzung Perkussion:
1) Marimba, Crotales [dis''], Gong [E], Pauken [kleine und große Basspauke], Maraca, Woodblock, großes Becken, kleine Trommel
2) Crotales [dis''], Vibraphon, Gong [F], Pauken [kleine und Basspauke], Woodblock, Holzplattentrommel, großes Becken, Tam-Tam, Tomtom [mittel], große Trommel
3) Crotales [dis''], Vibraphon, Gong [Es], kleine Pauke, Woodblock, Schlitztrommel, Peitsche, großes Becken, kleine Trommel
4) Marimba, Crotales [dis''], Gong [D], Pauken [kleine und große Pauke], Guiro, Maraca, Tempelblock, Lion's Roar, großes Becken, kleine Trommel

Art der Publikation
Verlag
Titel der Veröffentlichung
Georg Friedrich Haas: Bruchstück
Verlag/Verleger

Bezugsquelle/Preview/Hörbeispiel: Universal Edition

Beschreibung
"Georg Friedrich Haas’ Bruchstück entstand in den Jahren 2006 und 2007 als Auftragswerk der Münchner Philharmoniker und steht in einer Reihe mit den vorangegangenen Orchesterwerken natures mortes (2003) und Hyperion (2006): Kompositorische wie inhaltliche Elemente dieser Werke werden im Bruchstück weiterverarbeitet, Obertonharmonien und -akkorde spielen auch hier eine große Rolle. Die Auseinandersetzung mit einer extrem differenzierten Tonalität und einer durch Mikrotonalität erzielten Erweiterung des Klangfarbenspektrums stellt für Hörer wie für Interpreten eine höchst anspruchsvolle Erfahrung dar. Als Abschlussdatum ist in der Partitur vermerkt: „Basel, den 25. Januar 2007“.

Ähnlich wie in Hyperion ist auch Bruchstück von Unisono-Melodien bestimmt, die sich in verschiedenen Zeitrastern gegeneinander verschieben. Auch hier geht es um die Verschmelzung von dichten Klangräumen, um den Aufbau von Spannung durch harmonische Reibungen und in sich changierende Klangflächen. Das einsätzige Werk, das keine größeren Zäsuren aufweist, sondern sich in einem großen Bogen entwickelt, operiert über weite Strecken mit Obertonakkorden, die häufig zu vielstimmigen Klangnetzen entwickelt oder bei denen die individuellen Stimmen zu filigranen polyphonen Strukturen verbunden werden.

Haas beginnt mit mikrotonal aufgefächerten Bläserklängen zu kurzen Akzenten von Pauken und Schlagwerk. Rhythmisch komplexe Figuren, zunächst noch fast unhörbar in den geteilten tiefen Streichern, verweisen bereits zu Beginn auf spätere, ähnlich konzipierte, aber noch vielschichtigere Passagen. Kurze, aufwärts führende mikrotonale Skalenfiguren in den Hörnern werden als weiteres zentrales Motiv präsentiert. Im weiteren Verlauf verdichtet Haas den musikalischen Satz zu komplizierten Obertonakkorden, die einmal blockhaft, dann wieder linear aufgefächert daherkommen. Der Streicherapparat wird häufig in Einzelstimmen ausdifferenziert, die sich zu hochkomplexen Zusammenklängen formieren. Aus diesen Grundmaterialien entwickelt Haas große Teile der Partitur. Während in einer ausgedehnten Passage vor allem die Streicher dominieren und die Bläser den Satz lediglich mit lang ausgehaltenen Tönen grundieren, wird in einem darauffolgenden Tutti-Abschnitt ein erster dynamischer Höhepunkt erreicht. Dieser Ausbruch mündet in eine allmähliche Beruhigung des Geschehens: lang gehaltene Obertonakkorde erklingen gleichzeitig in der Horizontalen als auch vertikal aufgespreizt in kurzen Figuren der Hörner und Posaunen.

Dass der musikalische Satz an vielen Stellen scheinbar 'verstimmt' klingt, entspricht der Absicht des Komponisten, dem das harmonische Spektrum und die zusätzlichen Möglichkeiten, die der mikrotonale Ansatz eröffnet, besonders am Herzen liegen. Doch gibt es daneben auch längere Abschnitte im Bruchstück, die sich auf die herkömmliche chromatische Skala beschränken: Gerade das Spiel mit verschiedenen harmonischen Ebenen macht den Reiz der Stücke von Haas aus. Wenn auf die soeben beschriebene Passage ein Abschnitt folgt, der fast ausschließlich von huschenden, abwärts führenden chromatischen Skalen bestimmt wird, so schafft dies einen reizvollen Kontrast zu den komplexen Obertonakkorden, die anschließend wieder den harmonischen Satz bestimmen. Es ist nur eine konsequente, folgerichtige Entwicklung, wenn diese Skalenbewegungen noch weiter differenziert werden und schließlich in Glissandi übergehen, nun also der gesamte Tonraum ohne Abstufungen durchmessen wird. Dieses hier erstmals benutzte Instrumentarium wird später jedoch wieder in Skalenbewegungen aufgelöst, so dass sich Stauchungen und Dehnungen des Tonraums abwechseln und dadurch Momente zunehmender Spannung und Entspannung erzeugen. Dabei verdichtet Haas das Satzbild zu einem riesigen Konglomerat zahlloser Einzelstimmen, das an Komplexität und polyphoner Struktur kaum noch zu überbieten ist.

Die sich anschließende harmonische 'Entschleunigung' geht mit einer allmählichen Ausdünnung der Orchesterstimmen einher. Gleichzeitig tritt erstmals das Schlagzeug in den Vordergrund, während die vielfach unterteilten Streicher nur noch eine zarte Folie bilden. Eine für das musikalische Denken von Haas charakteristische Passage ist der darauffolgende Abschnitt der Hörner und Tuben. Die vertikal aufgefächerten Obertonakkorde, die hier erklingen, wurden bereits im Eröffnungsabschnitt exponiert, erfahren nun aber eine noch klarere Ausprägung. Allmählich verebbt auch diese Bewegung, bevor in einem ganz zart, wie gehaucht gespielten Epilog der Streicher die flüchtigen Figurationen aus dem früheren Abschnitt noch einmal auftauchen. Die Passage wirkt wie eine verschwommene Erinnerung an Vergangenes: „Es soll ein Klang entstehen, wie aus einer anderen Welt kommend.“ Auch in dieser Anmerkung des Komponisten im Notentext zeigt sich wieder seine Nähe zur Ästhetik der Romantik: Die „andere Welt“, von der die Romantiker träumten, war immer auch ein Gegenentwurf zur Realität - die Verheißung eines utopischen Ideals, das sich mit der sozialen Wirklichkeit nicht decken konnte und wollte. Der Schluss dieses traumartigen Abschnitts birgt noch eine Überraschung. Denn die „Klänge aus einer anderen Welt“ reißen plötzlich ab, verflüchtigen sich ins Nichts. Die Komposition endet mit einer langen Generalpause, einem kollektiven Innehalten, das zentraler Bestandteil des Werks ist und seinen Titel Bruchstück erneut legitimiert."
Martin Demmler, Werkeinführung, Universal Edition, abgerufen am 27.09.2021 [https://www.universaledition.com/georg-friedrich-haas-278/werke/bruchstuck-12804]

Auftrag: Landeshauptstadt München, Münchner Philharmoniker

Uraufführung
13. Mai 2007 - Philharmonie München (Deutschland)
Mitwirkende: Münchner Philharmoniker, Markus Stenz (Dirigent)