Augmented Studies - Wider die Natur

Werktitel
Augmented Studies - Wider die Natur
Untertitel
extended flute project
KomponistIn
Entstehungsjahr
2020
Dauer
52m
Genre(s)
Neue Musik
Gattung(en)
Ensemblemusik
Besetzung
Kammerorchester/Ensemble
Art der Publikation
Verlag
Titel der Veröffentlichung
Wider die Natur
Verlag/Verleger

Hörbeispiel: ablinger.mur.at

Die Geschichte des Stücks

Die Story
Alles begann mit einer Ablehnung. Der Flötist Erik Drescher stellte Ende 2019 einen Antrag für eine Kooperation mit mir. Es sollte anfangs eine Art Fortsetzung unserer gemeinsamen 2014er CD "Augmented Studies" werden, insbesondere eine Erweiterung der vielspurigen Stücke für (damals) 16 oder 22 Flöten. Die Ablehnung kam im Februar 2020. Dann kam Corona. Wir hatten beide nichts zu tun und so beschlossen wir unser Projekt zu starten – unfinanziert versteht sich.

Anfang Mai bei einem Brandenburg-Ausflug machte meine Frau Siegrid Ablinger eine Aufnahme an einem Unkenteich. Die Unken wurden zum "starting point" für das gesamte Stück und waren anfangs auch sein Arbeitstitel. Sowohl die klanglich-rhythmische Artikulation als auch die "Heterophonie" ('Ähnliches, gleichzeitig') wurde zum Strukturgenerator für alles Weitere.

Ausser der Idee der vielstimmigen Schichtung kamen noch zwei weitere Grundannahmen dazu: Einerseits sollte das Flötenspektrum nach oben und unten erweitert werden (auch jenseits Piccolo oder Bassflöte). Für die Höhe kaufte ich gebrauchte Orgelpfeifen, das 1-Fuss-Register einer nicht mehr existierenden Orgel, das - je nach Alter - bis an die Ultraschallgrenze heranreicht (höchtser Ton f6, ca 11KHz). Für die Tiefe besorgte ich Flaschen (tiefster Ton CIS, ca. 69Hz). Insgesamt also 7 1/2 Oktaven Umfang – das ist mehr als ein Sinfonie Orchester. Und dann die andere Grundannahme: Ich wollte nach einer auch für mich ungewohnten Methode vorgehen: diesmal nicht zuerst zu komponiern und anschließend das Ganze aufzunehmen, sondern zu komponieren während der Aufnahme, gewissermassen "al fresco" zu schaffen, und Erik als meinen Pinsel für das herzustellende Bild zu missbrauchen. "Al fresco" ist dabei die Metapher für das nicht-notierende Erzeugen, das das Erzeugen nicht mehr aufspaltet in Notation einerseits und Ausführung andererseits, die Bezeichnung also für die Festlegung im Moment des Entstehens.

Dann war eine Aufnahmeumgebung zu schaffen. Es war klar, dass kein herkömmliches Aufnahemstudio zu bekommen wäre für einen mehrwöchigen Zeitraum – es sollte ja kein 3-Minuten-Song werden. Ausserdem wollte ich unabhängig sein und frei entscheiden können ob wir heute Überstunden machen und morgen nach einer Stunde wieder abbrechen. Was wir benötigten war sozusagen ein home office-Studio. Hier kam die Akdemie der Künste mit ins Spiel: Gregorio Karman, Leiter des elektronischen Studios der Akademie borgte uns 2 Neumann-Mikrophone und ein professionelles Interface. Dann baute ich eine improvisierte Aufnahmekammer in meinem Atelier und verkabelte alles. Ich bastelte dann noch die "Ultraschallflöte", daher ich band die hohen Orgelpfeifen zu einer Art chromatischer Panflöte mit 2 1/2 Oktaven Umfang (c4 - f6) zusammen. Dann konnte es losgehen.


Anfang Juni machten wir die ersten Aufnahmen und produzierten dann in den folgenden 6 Wochen fast das ganze Stück. Nur wenige Nachaufnahmen folgten noch im September. Der Einstieg bestand aus ein paar Rückgriffen auf Existierendes. Zur Einstimmung und zum Soundcheck begannen wir, ein altes, aus den 80er Jahren stammendes, nie aufgeführtes Flötenstück ("Überlegung 19") aufzunemen – auch weil es in diesem Projekt vielleicht eine Art Vorläufer-Rolle spielen könnte, oder einfach weil die 'Unken'-Strukturen mich an diese alte Studie erinnerten. Dann nahmen wir Erik als Sprecher eines kleinen Konzepts von 1996 auf. Es heisst "Jetzt":

ein Stück für 1 Sprecher 
Text: "JETZT"
sonst nichts
immer nur das Wort "JETZT"
mit unterschiedlichen Pausen
wasweißichwielang
1.2.96

Die "unterschiedlichen Pausen" aber konkretisierten wir noch: Erik sollte das nächste "Jetzt" sagen, wenn es sozusagen 'da' ist, nichts weiter – und eher vermeiden, absichtliche Unterschiede der Pausen zu erzwingen. Das haben wir solange geübt, bis es 'da' war, und anschliessend auch auf das Instrumentalspiel übertragen. Es ging um das Paradox eines in rhythmischer Hinsicht 'nicht quantifizierbaren Gleichmaßes', die sich zu einer Lesart des Unkenrhythmus und schliesslich zum Rhythmusprinzip des gesamten Projekts fortbildete. Von diesen beiden 'Oldies' rutschte schliesslich der letztere in die prominente Rolle von Anfang und Schluss des Stücks, und das andere in den Appendix.

Ein weiterer 'Rückgriff' betraf schon quasi die Gegenwart: Ein Stück das "8 Zeichnungen" heißt und genau daraus besteht, realisierte ich erst wenige Wochen zuvor als elektronische Musik. 6 dieser 8 Zeichnungen plus einige Varianten realisierten wir nun nach und nach mit den Möglichkeiten der 'extended flute' in meist vielstimmigen Versionen bis zu etwa 70 Stimmen. Ein 70-stimmiges Ein-Mann-Orchester: das war auch vielleicht die passende Antwort auf die Corona-Restriktionen, mit dem zusätzlichen Effekt, mit sich selbst nicht allein zu sein.

Schon bald war klar, dass das Gesamtbild aus einer Abfolge vieler kurzer (zB. einminütiger) Einzelformen bestehen würde. Solche Einzelformen, Individuen oder Eingestalten können für sich alleine stehen oder aber sich zu übergeordneten Architekturen oder Organismen verbinden. Viele dieser vielstimmigen Gebilde sind exakt das Werk eines Tages. Schliesslich sei von den Strukturgeneratoren noch das Prinzip der Iteration oder des 'Kopierens' erwähnt, wobei zuerst eine Vorlage geschaffen wurde, die dann zB. "einen Ton höher" kopiert wurde. Im dritten Durchgang wurde dann die Kopie kopiert, etc., wie bei der "stillen Post". Was dabei genau "ein Ton höher" bedeutete, konnte variieren. Wir arbeiteten in den meisten Fällen nicht mit notierten Tonhöhen, sondern eher mit Definitionen oder Zeichnungen die einen gewissen Interpretationsspielraum bewahrten, auf den wir von einem Aufnahmeschritt zum nächsten reagieren konnten. Wie schon beim 'nicht quantifizierbaren Gleichmaß' spielen Unschärfen eine entscheidende Rolle, um in die zu Grunde liegenden, meist redundanten Texturen einen Mikrokosmos unüberschaubarer Nuancen – gewissermaßen – hineinzukopieren.

Dann – mitten in der Hauptphase der Einspielungen - fiel mir das Buch "Gegen die Natur" von Lorraine Daston in die Hände, wo sie den Naturbegriff diskutiert, und beschreibt was dieser fähig ist in unseren Köpfen – und leider auch außerhalb anzurichten. Unser diesem Buch entlehnter Titel richtet sich also nicht gegen die Natur – denn diese gibt es gar nicht; er richtet sich gegen unseren von der Moral getränkten Naturbegriff; oder: er meint jene Natur, die wir alle sind – ein Hupkonzert ebensosehr wie die medial vermittelte Aufzeichnung eines Unkentümpels – im Gegensatz zu einem Naturbegriff, der versucht eine kategorische Trennung zu allem Technischen, Fabriziertem, Menschlichen aufrechtzuerhalten, und daran festhält, die Natur in etwas Externes, in ein Draußen verbannen zu wollen.

Die verwendeten Instrumente:
Stimme (gesprochen, gesungen), Glissandoflöte (ca. b - cis4), "Ultraschallflöte" (Orgelpfeifen, c4 – f6), Flaschen (CIS –
fis1), Vogelpfeifen, und nur selten verwendet: Bassflöte, Piccolo, kleine Holzflöte

"GEGEN DIE NATUR"
Die 59 Formen (Tracks):
1 'Jetzt 1', voc
2 'Jetzt 2', fl
3 'Viele a', 9 fl
4 'Unken', field-rec
5 'Zeichnung 1', 2 fl
6 'Vorspiel Zeichnung 2 (eng)', 5 fl
7 'Zeichnung 2 (eng)', 32 fl
8 'Jetzt 3', fl
9 'Dreiklänge 1', 12 fl
10 'Gliss-Kanon 1', 23 fl
11 'Gliss-Kanon 2', 23 fl
12 'Kopieren: Wolf', 8 fl
13 'Kopieren: Aufspreizen', 8 fl
14 'Kopieren: ICE', 17 fl
15 'Kopieren: Zusammenfalten', 8 fl
16 '666 Töne 1', 29 fl
17 '666 Töne 2', 23 fl
18 'Dreiklänge 2', 12 fl
19 'Zeichnung 5', 9 Schichten f je 5 fla, bfl, fl, picc u opf
20 'Dreiklänge 3', 3 fla, 3 fl, 3 opf
21 'Regen 1', 6 opf
22 'Tiefes Unken', 15 fla
23 'Flaschenkanon', 51 Schichten f je 15 fla
24 'Regen 2', 7 fl
25 'Oktaven 1', 2 fla, 3 fl, 3 opf
26 'Diagonale', 51 schichten aus je fla, fl u opf
27 'Zeichnung 2 (weit)', 37 schichten aus je fla, fl u opf
28 'Zeichnung 8, Var.1', 8 opf
29 'Zeichnung 8, Var.2', 8 opf
30 'Oktaven 2', 2 fla, 3 fl, 3 opf
31 'Zeichnung 8', 61 Lagen f fla, fl, opf
32 'Vogelpfeifen (pp)', 2 vopf (gleichztg.gesp.)
33 'Prolog zu Telefon+Floete', 3 fl
34 'Telefon+Flöte', fl u field-rec
35 'Vogelpfeifen (ff)', 2 vopf (gleichztg.gesp.)
36 '4 hohe Orgelpfeifen', 4 opf
37 '9 hohe Orgelpfeifen', 9 opf
38 'Zikaden 1', 8 opf
39 'Zikaden 2', field-rec
40 'Prolog zu Zeichnung 4', 20 opf
41 'Zeichnung 4', 69 lagen/fla, fl, opf
42 'Dreiklänge 3', 7 fl
43 'Regen 3-6', 7 fl
44 'Wecker', 5 fl und field-rec
45 '3 Flächen', 79 fl
46 'Tiefes Unken 2', 15 fla
47 'Zeichnung "Etno"', 9 fl
48 'Tiefes Unken 3 (Terzen)', 26 fla
49 'Hupen Imitieren 1', fla u fl
50 'Hupen', Field-rec
51 'Hupen Imitieren 2', fla u fl
52 'Wabern solo', fl
53 'Wabern tutti', 9 fl
54 'Zeichnung 6', 9 opf, 8 fl, 3 voc
55 'Vogelpfeifen (mf)', 2 vopf (gleichztg.gesp.)
56 'Zeichnung "Baum"', 33 fl
57 'Gliss Solo 1', fl
58 'Gliss Solo 2', fl
59 'Jetzt 4', 2 voc
(1-59: 51:55)

APPENDIX:
60 'Nichts für 2 Trommeln' (1983), fl (4'23")
61-72 'Überlegung 19' (1988), fl (8'10")
73-80 '8 Zeichnungen' (2020), Elektronische Musik (7'47")

Hybrid (Fussnote zu Aspekten der Präsentation)

Unser "extended flute project" wurde ursprünglich begonnen als Projekt für Tonträger, nicht für Live-Konzerte. Es ging gewissermaßen auch um das Unmögliche, um etwas das realistisch, also Live, undenkbar wäre: ein Orchester aus 79 Glissando-Flöten, oder auch aus 72 "Ultraschallflöten". Im Voranschreiten der Arbeit bildete sich aber eine gewisse Dialektik zwischen Solo und Tutti heraus, oder auch zwischen einmaliger Vorlage und massenhafter Kopie, und somit erste Überlegungen für einen Hybrid aus Live-Performance und Zuspielung. Schliesslich könnte es zwei leicht voneinander abweichende Fassungen geben, die eine für Tonträger allein, die andere für die Kombination. Die ursprünglich nicht vorgesehene Hybrid-Fassung muss aber noch praktisch erprobt und getestet werden, bevor sie – als Anti-Corona-Mittel – amtlich zugelassen werden kann.

Was dem Komponieren immer entgehen muss
(Fussnote zu "Unschärfen")

Traditionelles Komponieren, also notierendes Komponieren, muss sich festlegen. Was dazu führt, dass Abweichungen vom Festgelegten zwar hingenommen, aber nur erschwert selbst gestaltgebendes Mittel werden können. Von vornherein – und nicht erst im Nachhinein – auf die Nuancen der Abweichung zu zielen, wird vom notierenden Komponieren wenig unterstützt. Der Notation entgeht etwas. Viele Komponisten empfinden diese Restriktion und arbeiten mit - oder vielmehr gegen dieses Problem, erfinden Notationen die nicht 1:1 reproduzierbar oder gar unspielbar sind, was zwar Abweichungen generiert, diese aber nicht 'komponiert'. Es ist ein Unterschied, ob ich Abweichungen nur akzeptiere oder aber erzeuge.

William Turner (Fussnote zu den extrem hohen Klängen)

... dichte Bündel hoher Töne nahe der Ultraschallgrenze sind
in meiner Vorstellung mit dem grellen Licht William Turners
assoziert... (Vgl.: 'Turner-Etüden' 1992/93)

(Fußnote zu "Hupkonzert")

LKW-Demo der Schausteller in Berlin am Brandenburger Tor gegen die Corona-Maßnahmen am 2.7.2020 (Feldaufnahme, 1:07, Form 50 aus "Wider die Natur"
Peter Ablinger, Werkbeschreibung, Homepage des Komponisten, abgerufen am 18.06.2025 [https://ablinger.mur.at/docs/wider-story.pdf]

Weitere Informationen

ablinger.mur.at