Unter einem guten Stern
Saiten-Tasten − Innenraumstudien für das andere Klavier
Mathilde Hoursiangou im Gespräch mit Wien Modern über ihr 2016 begonnenes Projekt
Du beschäftigst dich seit vielen Jahren mit dem Klavierinnenraumspiel. Wann bist du diesem Zugang zum Klavier begegnet?
Es muss mitten in meiner Studienzeit gewesen sein. Ich habe eine noch brennende Erinnerung an eine Aufführung von Martine Joste in Radio France. Sie spielte die Five Pieces for Piano von George Crumb. Das sind sehr schöne, frühe Stücke von ihm (1962), etwas zwischen Webern und Debussy, mit sehr wirkungsvoller und durchgehender Einbeziehung von Spieltechniken der Zupf- und Streichinstrumente (wie zum Beispiel pizzicati, Flageolette, gedämpfte Töne), übrigens für mich nach wie vor vom Schwersten, was in dieser Art geschrieben wurde − das mittlere Stück ist sogar «Notturno sempre pizzicato» bezeichnet … Die Stücke verlangen, wie soll man sagen, eine absolut symbiotische Beherrschung des Wechselspiels zwischen Tastatur und Innenraum des Flügels, für mich damals etwas ganz Neues. Nach diesem Konzert war ich restlos begeistert. Ich besorgte mir die Noten – diese übergroße, schöne Peters-Ausgabe mit einer langen Einleitung des Komponisten über Notation, Techniken, und Markierungen im Innenraum – und war völlig überfordert … Trotzdem war mir klar: Das muss ich einmal können! Diese klangliche Erweiterung, dieser direkte Kontakt zu den Saiten, das Klavier wie eine große liegende Harfe vor dem/der Pianisten/-in – das war fa szinierend …
Wann hast du dich dann den Five Pieces widmen können?
Erst ein paar Jahre später, Anfang der Neunzigerjahre. Ich war seit einiger Zeit in Wien und hatte damals begonnen, unter anderem regelmäßig mit dem Klangforum zu spielen: So hatte ich schon erste Erfahrungen in der Praxis der neuen Musik gesammelt und manche heikle Situationen bezüglich Innenraumtechniken erlebt … Ich hatte einiges von Kollegen oder Komponisten erfahren und eigene Lösungen ausprobiert. Das war manchmal mit viel Stress verbunden gewesen, und ich wollte mich in diesem Bereich entwickeln, um mich damit einfach am Podium besser zu fühlen. Da kam das Angebot, für einen erkrankten Kollegen innerhalb von drei Wochen ein Programm meiner Wahl zu gestalten. Es war September, ich hatte viel Zeit, und ich wusste vor allem, dass ich auf dem Flügel des Konzertsaals – es war in der alten Stadtinitiative von Renald Deppe in der Kirchengasse – in den Tagen davor praktisch unbegrenzt üben könnte. So habe ich mich vorgewagt und die Stücke programmiert, eine unvergessliche Erfahrung … Ich habe viel geschwitzt, aber auch sehr viel Bleibendes gelernt!
Hattest du in der Ausbildung die Möglichkeit, dich mit dem Innenraumspiel zu beschäftigen?
Ich kam damals immerhin damit in Berührung; ich probierte ein bisschen herum, aber mehr nicht. Es war einfach dafür nicht genug Zeit. Auch in Paris, wo ich studiert habe und neue Musik im Konzertfachstudium immer Platz fand, wurden diese Techniken nicht unterrichtet.
Warum?
Es gibt sicher mehrere Erklärungen dafür: Zuerst muss man sehen, dass die PianistInnen, wahrscheinlich am wunderbarsten und «schlimmsten» von allen InstrumentalistInnen, als SolistInnen, KammermusikerInnen, LiedbegleiterInnen usw. vor einem überwältigend großen Repertoire stehen. Man entwickelt sich dann, je nach Affinitäten, Präferenzen, Fähigkeiten, Möglichkeiten, Zufällen in die eine oder andere Richtung, aber während des Studiums muss man ein bisschen von allem versuchen − und dieses «Bisschen» ist insgesamt sehr viel. Zudem nimmt das Erlernen eines raffinierten Innenraumspiels sehr viel Zeit und Fokussierung in Anspruch, bis man wirklich frei und entspannt gestalten und interpretieren kann. Jede Klaviertastatur ist annähernd gleich, sodass jede ausgebildete Hand sich quasi blind darauf auskennt. Jede Flügelmarke, jedes Flügelmodell hat aber im Inneren, neben Konstanten und Ähnlichkeiten, auch seine Besonderheiten in der Bauweise. Das Hauptproblem liegt in der variierenden Form des Gusseisenrahmens und der daraus resultierenden Anordnung der Saiten − und damit in der Orientierung. Noch dazu, wenn man bedenkt, dass PianistInnen, im Gegensatz zu den meisten anderen InstrumentalistInnen, praktisch nie auf ihrem eigenen Instrument Konzerte spielen können. Diese erweiterten Spieltechniken am Klavier verlangen Flexibilität, Adaptationsfähigkeit und gute Nerven. Es ist eine ganz neue technische und klangliche Situation für einen/eine PianistenIn, der/die seit Jahren vor den Tasten sitzt. Natürlich ist das Klavier seit zwei Jahrhunderte das Tasteninstrument schlechthin, allerdings auch das Instrument mit den allermeisten Saiten. Sicher ist darin nach wie vor ein weiter schwerwiegender Grund zu finden, warum eine verhältnismäßig kleine Anzahl von PianistInnen mit diesen Techniken wirklich vertraut ist. Die Klänge, die sie ermöglichen, so verführend und zauberhaft sie sein mögen, stellen eine Ausnahmesituation dar. Mit anderen Worten, selbst wenn KomponistInnen und PianistInnen seit Langem «über den Tastenrand» geschaut und gehört haben (siehe und höre z.B. die frühen Werke vom Urvater des «String Piano», Henry Cowell, Aoelian Harp, Sinister Resonnance, beide aus dem Jahr 1923, oder The Banshee von 1925): Das Klavier mit seiner langsam bis zur quasi Perfektion ausgereiften Mechanik ist nicht dafür gemacht. Das ist wahrscheinlich der Grund, der die Gemüter am meisten teilt: Warum mehr suchen, wenn es so gut funktioniert, und dazu riskieren, das Instrument zu beschädigen? So sind viele PianistInnen dafür nicht offen und/oder ausgebildet … ein Teufelskreis.
Sind diese Techniken für das Klavier tatsächlich schädlich?
Nicht direkt – vorausgesetzt, man beherrscht sie, wendet sie behutsam an und respektiert ein paar Grundregeln. Wohlgemerkt spreche ich nicht von «harten» Präparierungen «à la Cage» mit Schrauben, Bolzen, Dübel, Holzstücke usw., ein wunderbares klangliches Feld, das aber die Klaviere unvergleichlich mehr beansprucht. Natürlich werden die Saiten mit den Fingern berührt, wird Gummi benützt, z.B. um zu dämpfen oder Quietschgeräusche zu erzeugen, das Glas oder glattes Metall eines Gitarren-Bottleneck für Glissandi angewendet. Die Saiten sind dadurch möglicherweise schneller der Abnützung ausgesetzt als im Normalfall, und das, obwohl sie, etwa im Gegensatz zu den Streichinstrumenten, nicht so leicht und regelmäßig ausgetauscht werden können. Sie können Korrosionspuren davontragen, von denen manche behaupten, dass der Gesamtklang darunter leiden kann. Doch auch das ist letztlich schwer zu beweisen, da in dem Bereich so viele Faktoren zusammenspielen. Die korrodiertesten Klaviersaiten habe ich übrigens in Salzburg erlebt, auf einem schönen großen Steinway im Mozarteum, und es war wahrscheinlich dem feuchten Salzburger Klima zu verdanken. Ein Steinway-Techniker sagte mir einmal etwas Schönes: «Das gelegentliche Greifen in die Saiten ist weitaus nicht das Schlimmste, was ein Klavier erleben kann: Das Schlimmste ist der brutal lauter Pianist, der einen Abend lang in die Tasten drischt und der nicht kapiert hat, dass das Schwierigste und das Interessanteste in den differenzierten farbigen und leisen Klänge zu suchen ist.» Ein letzter – und vielleicht endgültiger – Beweis, dass man die übertriebenen Vorbehalte gegen das Spiel im Inneren des Klaviers aufgeben könnte, ist die Tatsache, dass zwei große, traditionsreiche deutsche Klaviermanufakturen, Steingraeber & Söhne aus Bayreuth und Sauter aus Spaichingen bei Stuttgart, schon seit Jahren bei manchen Flügelmodellen die Dämpfer farblich schwarz-weiß unterscheiden (im Normalfall sind diese alle schwarz). So ist eine Orientierung wie auf einer Tastatur sofort möglich, die man sonst selbst durch kleine temporäre Markierungen auf den Dämpfern oder Agraffen erreichen muss. Und Sauter geht noch weiter: Auf seinem 2,20 Meter langen Flügel ist serienmäßig auf dem Resonanzboden der Verlauf der Hälfte, des Drittels und des Viertels der Saiten durch farbige Linien markiert, sodass man sofort die entsprechenden Naturflageolette der Saiten (also Oktav, Quint und Doppeloktav) finden und greifen kann. Das sind Klavierbauer, die sich nicht fürchten, mit ihrer Zeit zu gehen!
Du unterrichtest seit ein paar Jahren an der Universität für Musik und darstellende Kunst in Wien «Instrumentale Spieltechniken und künstlerische Praxis der Neuen Musik» am Klavier. Ist das Klavierinnenraumspiel fester Teil deiner Lehre?
Neben vielen anderen besonderen Aspekten der neuen Musik, für die ich die StudentInnen sensibilisieren möchte, wie z.B. Resonanzgestaltung und Pedalspiel oder auch neue Arten der Zeitgestaltung, neue Notationen, neue Ausdruckformen usw., sind Innenraumtechniken eine Bereicherung, die nach Möglichkeit alle StudentInnen erfahren sollten. Denn ich bin überzeugt, dass jemand, der sich einmal, mit weit offenen Ohren die Saiten ertastend, in das Klavierinnere vertieft hat, verändert und so anders hörend zu den Tasten zurückkommt und nie wieder vergisst, dass das Klavier auch ein Saiteninstrument ist. Es bietet eine andere Hörperspektive, eine größere Nähe, eine andere «Intimität» zum Klang, die man hoffentlich nicht mehr verliert. Es ist eine gute Abwechslung und Hörschule, auch wenn man sich dann in eine ganz andere Richtung entwickelt.
Wie ist die Idee zu Saiten-Tasten entstanden?
Ich bin seit ein paar Jahren immer auf der Suche nach kurzen, fokussierten Stücken, die in möglichst knapper Form diese Erfahrung ermöglichen, und habe festgestellt, dass es zu wenig davon zu geben scheint. Zudem habe ich immer sehr bedauert, wenn in diesem Bereich, meistens aus Unwissen und Scheu, unerfahrene KollegInnen, Unterrichtende und StudentInnen, manchmal sogar VeranstalterInnen unbegründete Vorbehalte gegen diese einfachen Spielarten im Klavier hatten. Ich wollte den Dialog zu diesem Thema öffnen und durch die Verbreitung des Solorepertoires anregen. Merkwürdigerweise sind diese neuen Klavierklänge in der Kammermusik und im Ensemble viel weiter verbreitet als in der Sololiteratur – was sich natürlich aus den oben besagten Gründen ergibt. Viele KomponistInnen, die sie dort selbstverständlich benützen (vielleicht um bessere Klangmischungen mit den anderen Instrumentenfarben zu erzielen?), scheinen sie in ihren Solowerke eher zu meiden und behandeln dort das Klavier traditioneller. Michael Jarrell oder Johannes Staud sind für mich auffallende Beispiele: Es gibt bei den beiden wunderbare, sehr schwierige Passagen dieser Art, ich denke hier an Verästelung von Jarrell oder Lagrein von Staud – doch in Solostücken nichts oder kaum Entsprechendes. So habe ich sie einfach angerufen und gesagt: «Wie sollen PianistInnen für eure Werke diese Techniken je beherrschen, wenn es keine kurzen studienartigen Stücken gibt, in denen sie alleine sie erproben können?» In jeder musikalischen Epoche gab es entsprechend der stilistischen und instrumentalen Entwicklungen der Zeit künstlerisch und technisch anspruchsvolle Studienwerke – von Bach oder Scarlatti über Chopin, Schumann, Liszt, Rachmaninow, Skrjabin, Debussy, Bartók usw. bis Ligeti, Kurtág oder Glass (und später …). Warum also nicht im 21. Jahrhundert 21 Innenraumstudien für das andere Klavier?
Wie hat sich das Projekt weiterentwickelt?
Saiten-Tasten ist überall auf große Zustimmung gestoßen: bei den angefragten KomponistInnen, die selbst wunderbare Ideen eingebracht haben – etwa Bernhard Lang relativ am Anfang, der als Erster an ein Duo mit Zuspielung gedacht hat, sodass die Sammlung jetzt auch vier vierhändige Stücke und sogar ein sechshändiges und ein weiteres Solostück mit Zuspielung beinhaltet –, bei den SponsorInnen, bei Bernhard Günther für Wien Modern 2019 und anderen VeranstalterInnen, bei den KollegInnen und StudentInnen … Es stand und steht unter einem guten Stern – so wie jetzt die Wahl meiner drei jungen KollegInnen Kimiko Krutz, Luca Lavuri und Eriko Muramoto, die mit mir die Uraufführung spielen werden, und auch bei der irgendwann wie selbstverständlich getroffenen Entscheidung, als Kontrast zu der sehr europäisch zentrierten KomponistInnenauswahl des Projektes George Crumb anlässlich seines 90. Geburtstages mit der Uraufführung von SaitenTasten zu kombinieren. Übrigens trägt sein Zyklus Makrokosmos IV für Klavier vierhändig den Titel Celestial Mechanics; die zwei Sätze, die wir daraus spielen werden, sind nach den Sternen Alpha Centauri und Gamma Draconis benannt, während auch zwei Stücke aus Saiten-Tasten sich auf den Sternenhimmel beziehen: of all stars the most beautiful von Elisabeth Harnik und Sestante M. H. von Marco Momi. Es waren so viele glückliche Fügungen und Zufälle, die das Projekt wie von selbst weitergetragen haben. Und der schönste Zufall ist sicher, dass Makrokosmos IV am 18. November 1979, also auf den Tag genau 40 Jahren vor der Uraufführung von Saiten-Tasten uraufgeführt wurde …
Wie geht es mit dem Projekt nach der Uraufführung bei Wien Modern weiter?
Saiten-Tasten ist mittlerweile ein Forschungsprojekt der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien geworden, die mich sehr großzügig unterstützt. Ich schreibe zu der allgemeinen Problematik sowie zu allen Stücken und Techniken Einführungen und Notizen und bin dabei, die Stücke nach und nach aufzunehmen. Ich versuche, mit den KomponistInnen jedes Stück spiel- und notationstechnisch zu optimieren. Die Ergebnisse des gesamten Projektes sollen veröffentlicht werden, wobei noch zu klären ist, in welcher Form. Ich hoffe, PianistInnen, KomponistInnen, StudentInnen, Lehrenden, ausübenden MusikerInnen, Klavierinteressierten und -begeisterten aller Art damit den Einstieg in diesen speziellen Techniken des Klavierspiels zu erleichtern.
Aus: Unter einem guten Stern. Saiten-Tasten − Innenraumstudien für das andere Klavier. Mathilde Hoursiangou im Gespräch mit Angela Heide. In: Festivalkatalog Wien Modern 32: Wachstum. Bd. 2: Essays, hg. v. Bernhard Günther und Angela Heide. Wien: Musikverein Wien Modern 2019, S. 32–36.
Mit freundlicher Genehmigung von Wien Modern