Orchestercode: Picc,1/2, EHrn/4/3, KFag - 4/2/2, BPos/1 - 4 Perc - 14/12/10/8/6
Piccoloflöte (1), Flöte (2), Oboe (2), Englischhorn (1), Klarinette (4, in A), Fagott (4), Kontrafagott (1), Horn (4), Trompete (2), Posaune (2), Bassposaune (1), Basstuba (1), Perkussion (4), Harfe (1), Klavier (1), Akkordeon (1), Celesta (1), Violine (26), Viola (10), Violoncello (8), Kontrabass (6)
Bezugsquelle/Preview/Hörbeispiel: Universal Edition
Beschreibung
"Traum, Unendlichkeit und das Aufbrechen von Grenzen, Fantasie und Nacht, die Schatten und unbewussten Seiten des menschlichen Daseins: All das sind Motive romantischer Weltanschauung, welche in der geistes- und kulturgeschichtlichen Entwicklung nachhaltig wirksam waren. Als Protest gegen die 'Entzauberung der Welt' durch Industrie und Technik setzten die Romantiker das Irrationale, beschworen den (vermeintlichen) Geist längst vergangener Zeiten, beriefen sich auf die Natur, werteten das Fragment auf und negierten beziehungsweise relativierten mindestens den vorrangigen Stellenwert der menschlichen Vernunft. In der Musik hieß das unter anderem: Betonung des gefühlvollen Ausdrucks, Auflösung oder Umdeutung klassischer Formen, Erweiterung und Überschreitung der traditionellen Harmonik sowie Einbeziehung 'außermusikalischer' Ideen.
Manche Aspekte dieses Denkansatzes kann man auch in der Musik des Österreichers Georg Friedrich Haas finden. Zum einen kreisen Haas‘ Werke immer wieder um die Themen Nacht und Fremde: Sein 1997 entstandenes Klavierkonzert heißt zum Beispiel Fremde Welten, 2000 schrieb Haas das auf einem Jean-Paul-Text basierende Chorwerk Blumenstück, und erst vor Kurzem wurde das Streicherstück Unheimat in München durch das dort ansässige Kammerorchester uraufgeführt. Zum anderen hat der Komponist seit den 90er Jahren in seinen Stücken zu einer Tonsprache gefunden, welche im mikrotonalen Bereich oder unter Einbeziehung von Obertonreihen und Schwebungen die Begrenzungen traditioneller Skalen aufbricht und überschreitet. Experimente mit dem Klang, gleitende Übergänge, hauchfein aufeinander abgestimmte Spielprozesse und filigrane Strukturen kennzeichnen seine Stücke.
Aus dieser Perspektive fügt sich die Orchesterkomposition Traum in des Sommers Nacht sowohl stilistisch als auch ideell in das Interessenfeld von Georg Friedrich Haas. Der Titel kann dabei als distanzierte Bezugnahme auf Mendelssohn gelten: Einerseits greift er auf die wohl bekannteste Komposition des Romantikers zurück, die Schauspielmusik Ein Sommernachtstraum op. 61, andererseits verweist die Werkbezeichnung auf den grundlegenden Unterschied zwischen einer Sommernacht und 'des Sommers Nacht': Die dunkle, trübe, ja zwielichtige und mehrdeutige Seite der Realität wird hier in den Vordergrund gerückt.
Seine knapp 20-minütige 'Hommage à Felix Mendelssohn Bartholdy' hat Georg Friedrich Haas aber noch auf einem weiteren Gedankengang aufgebaut, nämlich dem, Mendelssohn nicht als elegant-gefälligen Musiker seiner Zeit aufzufassen, sondern als künstlerischen Neuerer zu erforschen und zu erleben. So hat Haas im Zusammenhang mit seinem Orchesterstück einen Aufsatz geschrieben, den er als Mendelssohn, der Avantgardist betitelt und in dem er in analytischen Detailstudien einige aus seiner Sicht für Mendelssohns Musikdenken maßgebliche Facetten erläutert hat. Wie die Komposition selbst bezieht sich der Text auf ausgewählte Mendelssohn-Werke und daraus wiederum auf jeweils ganz knappe Passagen. Zwei Aspekte stellt Haas dabei als wesentlich heraus. Zum einen die Existenz eines chromatischen Feldes beziehungsweise einer Zwölftonreihe in der Nummer 4 (Melodram) der Schauspielmusik Ein Sommernachtstraum op. 61. Zum anderen das Komponieren mit Klangfarben in der Ouvertüre Meeresstille und glückliche Fahrt op. 27. Haas bezieht es gleichfalls auf die Musikentwicklung des 20. Jahrhunderts, indem er es als Vorwegnahme von Arnold Schönbergs Vorstellungen und den Realisierungen der seriellen Musik der 50er Jahre ansieht. Als Schwerpunkt der kompositorischen Gestaltung bei Mendelssohn sieht Haas hier ausdrücklich nicht Melodie- oder Harmonieverläufe, sondern Klänge – und zwar als eigenständige Qualitäten.
Diese analytische Sicht auf Mendelssohns kompositorische Praxis dient dem Österreicher zugleich als Ansatzpunkt für sein Orchesterstück. Die Musik basiert auf zahlreichen rhythmischen und melodischen Zitaten und Zitatkombinationen, die allerdings nicht für sich stehen, sondern als Grundlage für ein klangfarblich und satztechnisch neues Gesamtgefüge dienen. Ausgehend von seinen durch Analyse festgestellten Besonderheiten der Mendelssohn‘schen Musik schafft Haas ganz unterschiedliche Varianten von meist fließend ineinander übergehenden Klangflächen und -feldern und bietet damit seine heutige Perspektive auf das Werk des Romantikers. Anders jedoch als in der Analyse, die sich lediglich auf zwei Stücke bezieht, liegen dem Orchesterstück kurze Partikel aus folgenden Kompositionen Mendelssohns zugrunde: Ein Sommernachtstraum op. 61 (Ouvertüre, Intermezzo, Scherzo, Melodram, Hochzeitsmarsch), die Ouvertüren Meeresstille und glückliche Fahrt op. 27 und Die Hebriden op. 26, ferner die 4. Sinfonie op. 90 – zum größten Teil also Werke, die in den Jahren um 1830, also noch vor Mendelssohns Amtsantritt am Leipziger Gewandhaus entstanden und die in ihrer Qualität folglich den noch sehr jungen Komponisten als herausragendes Talent kenntlich machen.
Dass der Titel der Komposition mehr ist als äußerliche Bezugnahme, wird gleich zu Beginn deutlich: 'Traum' und 'Nacht' sind klangliche und inhaltliche Assoziationsfläche für den Einstieg in die Musik – in romantischer Formulierung könnte man sagen: in eine andere Welt: In vagen, nicht direkt greifbaren Klängen des Schlagzeugs und der Streicher im dreifachen Piano schafft Haas zunächst ein auf Zitatschichtung basierendes Geflecht, das rund zwei Minuten lang die Situation allein bestimmt. Dabei wiederholen die beteiligten Instrumente die ihnen vorgeschriebenen Motive in variablen Grundtempi jeweils unterschiedlich oft (zwischen 32 und 203 Mal) und wechseln auch vielfach Spielweise und Dynamik.
Und schließlich scheinen in das verklingende Geschehen die ersten vier Akkorde der Ouvertüre zum 'Sommernachtstraum' hinein. Sie sind dann der eigentliche Beginn einer Reihe musikalischer Felder, die sich permanent in Bewegung befinden (und sei es nur durch winzige Veränderungen im Innern) und mal in stehenden, bisweilen farblich wechselnden Akkorden, mal als Netz geschichteter Motive, mal als im Innern differenziert rhythmisierter Klang – punktuell mit vierteltönigen Strukturen – immer neue Atmosphären schaffen. Dabei folgen sie aber weder einem Entwicklungsgedanken, noch sind sie konkret in sich abgeschlossen. Die erste Akkordfläche etwa geht in den Streichern nach und nach zu aufsteigenden Glissandi über, und die Bläser werden sukzessive ausgeblendet, bevor schließlich in den Pauken, später dem 2. Fagott der Beginn der Hebriden-Ouvertüre zitiert wird. Das jedem Musikfreund bekannte sechstönige Motiv etabliert sich hernach (zum Teil auch in der Dur-Variante) Stück für Stück in allen Stimmen des Orchesters, allerdings erneut in unterschiedlichen Metren und Rhythmisierungen, so dass sich schließlich ein extrem dichtes Netz ergibt, welches die originale Vorlage nicht mehr hörbar macht. Auf die Entflechtung, die mit einem deutlichen Einschnitt endet, folgt schließlich jenes musikalische Element, das Haas bei Mendelssohn als Vorschein avantgardistischen Denkens fand: die Zwölftonreihe aus dem Melodram des 'Sommernachtstraums'. Nicht zufällig ziemlich genau in der Mitte seiner Komposition stellt Haas sie in den Kontrabässen explizit heraus – und macht vielleicht hier sein Verständnis zum Werk des Romantikers musikalisch am nachdrücklichsten deutlich. 'Mendelssohn, der Avantgardist' bleibt präsent, und zwar nicht nur in der 'Traumsphäre' des Orchesterstücks (dessen weiterer Verlauf noch mehrere der Mendelssohn‘schen Verfahren aufgreift), sondern tatsächlich auch in der heutigen Musik."
Dr. Christiane Sporn, Werkeinführung, Universal Edition, abgerufen am 27.09.2021 [https://www.universaledition.com/georg-friedrich-haas-278/werke/traum-in-des-sommers-nacht-13372]
Uraufführung
28. August 2009 - Gewandhaus Leipzig (Deutschland)
Mitwirkende: Gewandhausorchester Leipzig, Riccardo Chailly (Dirigent)
Empfohlene Zitierweise
mica (Aktualisierungsdatum: 27. 9. 2021): Haas Georg Friedrich . Traum in des Sommers Nacht. In: Musikdatenbank von mica – music austria. Online abrufbar unter: https://db.musicaustria.at/node/160238 (Abrufdatum: 27. 12. 2024).