Violine (2), Viola (1), Violoncello (1)
Bezugsquelle: Doblinger Musikverlag
Beschreibung
"Das Streichquartett, als Gattung wie als Besetz ung einflussreiche Erscheinungsform europäischer Musikgeschichte, nimmt in der Kammermusik de n gleichen Rang ein, den die Symphonie, kanongestützt wie jenes, auf dem Orchesterpodium bis heute behaupten kann – als eine Gipfelform bürgerlicher Musikkultur, mit dem tradierten Anspruch, aufgeklärt vernünftigen Disput von vier Charakteren tönend zu repräsentieren. Christian Ofenbauer stand ihr lange Zeit wenn schon nicht ausgesprochen reserviert, so doch mit distanzierter Skepsis gegenüber: Waren denn die janusköpfigen zentralen Werke der Moderne zwischen Schönberg und Bartók wirklich imstande, die Gattung, entstanden als Kind und Repräsentant klassisch-tonaler Ästhetik, von dieser technischgehaltmäßigen Überfrachtung zu befreien? Die herkömmliche Rollenstruktur aus zwei dominierenden, streng hierarchisch differenzierten Oberstimmen, einem Bass und einer oft bloß als ergänzend missverstandenen, auch akustisch benachteiligten „Füllstimme” - erweist sie sich für ein emanzipiertes Verhältnis der Parts nicht immer wieder als Hemmschuh? (Rudolf Kolisch darf mit seinem Quartett auch hierfür als bedeutender Vorkämpfer gelten.) Hatten und haben nicht viele Streichquartett-Ensembles die angedeuteten, scho n bei tonaler Musik fragwürdigen und benebelnd-verharmlosenden aufführungspraktischen Übli chkeiten so internalisiert, daß diese Sedimentierungen als gleichsam sklerotische Hi ndernisse den adäquaten Kreislauf im Organismus Neuer Musik stark beeinträchtigen?
Standen solche Überlegungen einer Streichquarte ttkomposition lange Zeit im Wege, weckte die Begegnung mit den Webern-Interpretationen des Leipziger Streichquartetts Christian Ofenbauers Interesse; im Februar 1997 lag sein Quartett-Erstling fertig vor. Der
Streichquartettsatz 1997 lagert im Umfeld von Ofenbauers Zwei Stücken für acht Flöten (1996) und dem Violinkonzert fancies (fancy papers) (1997) – also in der Nähe von Werken, die bestimmte akustische Zustände ausbreiten, oder in zeit- und raumgreifender Differenziertheit von einem tönenden Erscheinungsbild in ein anderes fließen. Ein solcher Verlauf ereignet sich auch hier, er vollzieht sich aber nicht bruchlos und kontinuierlich, sondern in den Verwerfungen und Kanten mehrerer Schichten. Ausschließlich im reich abgestuften untersten dynamischen Bereich angesiedelt, unternimmt das Stück in seiner „galle rtigen Struktur” (Manfred Angerer) ineinander verschraubte Reisen - vom Dichten ins Lockere, vom Klang zum Geräusch, vom Akustischen zur Gestik. (In mancherlei Hinsicht kann es als Vorbote von Ofenbauers Motette Kommt Sirenen klagt (1998) verstanden werden, in der auf einer Eben e des Werks eine klangliche Vertrocknung, eine Verknirschung vorgeführt wird.) Ausgangspunkt ist ein konsistentes, thematisch noch vergleichsweise fassbares Konglomerat des Beginns , das alle Instrumente in bequemer Lage auf dem engen Raum von zwei Oktaven mit jeweils recht begrenztem Tonvorrat ein Klangband formen lässt – mit der 2. Violine als Oberstimme. Das Gedehnte zieht sich aber bald zu generalpausendurchsetzten „Schoppungen” zusammen, bevor ein akkordischer Verlauf einsetzt, bei dem die Töne in der Horizontale unregelmäßig au seinandergezerrt erscheinen – von gleichsam leicht verwackelten, arpeggierten bis zu distin kt konsekutiven Einsätzen, die die Klänge umherdriften lassen. Diese Entwicklungsstränge we rden nun weiter verfolgt, erfahren jedoch dabei ein kontinuierlich fortschreitendes Abrücken vo n den anfangs noch dominierenden herkömmlichen Spieltechniken: immer geräuschhaftere Farben mischen sich in das Klangspektrum, bis sie schließlich alleine übrigbleiben. Daneben dünnt das Geschehen aber auch zunehmend aus: Als blicke man durch ein Mikroskop mi t steigendem Vergrößerungsfaktor, erscheint anfangs alles dicht und voll, bis man per Zoom immer weiter eindringt und schließlich auf die gähnende Leere zwischen den Materieteilchen stößt. Hinzu kommt ab er auch noch ein gestisch-akustisches Element in Gestalt sogenannter „Wendefermaten”: Wählt das ausführende Quartett nicht die Möglichkeit, sich die Noten von dritter Hand umblättern zu lassen, geben die Wendefermaten dazu Gelegenheit. – „Die Dauer dieser Fermaten ergibt sich aus ihrer Funktion – sie sollen keinesfalls länger sein als für das Umblättern selbst nötig ist und sich auch dadurch von den ‚echten‘ Haltepunkten im Stück hinsichtlich ihres Ausdrucks untersc heiden”, schreibt Ofenbauer in der Partitur und intendiert eine Art „Choreographie des Seitenwendens”. In diesem Aufführungsmodus ergibt sich einezusätzliche gestische Komponente des Stücks, die gegen desse n Ende eine Entsprechung im Notentext findet: Dort löst sich nämlich der Klang völlig von jeglichem „Streichen”, indem die MusikerInnen „die Bogenstange seitlich durch die Luft schnellen lasse n (wie eine Peitsche)”. In den letzten beiden Takten ist in allen Stimmen nur noch diese Aktion (wie stets rhythmisch exakt) vorgeschrieben – der Streichquartettsatz 1997 ist damit an seinem Ziel angelangt"
Walter Weidinger, Werkbeschreibung, Doblinger Musikverlag, abgerufen am 07.04.2022 [https://www.doblinger-musikverlag.at/files/doblinger-musikverlag/downloads/werke/OFENBAUER_Streichquartettsatz.pdf]
Uraufführung
26. Oktober 1997 - Frankfurt am Main (Deutschland)
Veranstalter: hr - Hessischer Rundfunk (EBU Konzert)
Mitwirkende: Neues Leipziger Streichquartett
Weitere Informationen: European Broadcast Union Konzert, Liveübertragung der Uraufführung im hr
Aufnahme
Titel: Christian Ofenbauer - Streichquartette 1997-2011
Label: NEOS (CD)
Jahr: 2017
Mitwirkende: Arditti Quartett
Titel: Erster Streichquartettsatz 1997
Plattform: YouTube
Herausgeber: Arditti Quartet – Thema
Datum: 09.04.2019
Mitwirkende: Arditti Quartett
Weitere Informationen: NEOS (CD)
Sendeaufnahme
26. Oktober 1997
hr - Hessischer Rundfunk
Empfohlene Zitierweise
mica (Aktualisierungsdatum: 7. 4. 2022): Ofenbauer Christian . Streichquartettsatz 1997. In: Musikdatenbank von mica – music austria. Online abrufbar unter: https://db.musicaustria.at/node/139088 (Abrufdatum: 23. 11. 2024).