Viola da Gamba (1), Tonband (1)
Beschreibung
"Der Titel des Stückes, Turgor, verweist auf die basale kompositorische Idee: Klangzellen bewegen sich in be- und entschleunigtem Zustand wie Teilchen in sehr unterschiedlichen Aggregatzuständen und wechselnden Räumen, so dass eine Assoziation zu biochemischen Prozessen wie Diffusion und Osmose naheliegt. Osmose nämlich bezeichnet das Hindurchtreten (Diffusion) von Flüssigkeitsmolekülen durch eine semipermeable Membran mit der Tendenz, die
Konzentrationsunterschiede gelöster Teilchen auf beiden Seiten auszugleichen. Den dadurch bedingten Druckunterschied bezeichnet man als osmotischen Druck (lateinisch: turgor). Ähnlich wie beim Temperaturausgleich wird bei der Osmose keine Energie frei gesetzt oder benötigt, gleichwohl steigt die Entropie.
Ohne dass in Turgor nun versucht wird, dieses physikalische Phänomen auf das Klanggewebe zu übertragen, so besteht doch mehr als ein rein assoziativer Zusammenhang. Turgor selbst ist eine Art Mikroorganismus, dessen Räume wie interzelluläre Gebilde angelegt sind – ein Blick auf das Material zeigt, wie deutlich hier musikalische Details mikroskopisch «bearbeitet» werden.
Detailvergrößerungen der mikroskopischen Zellen führen zu signifikanten Ausfransungen der Klänge, die durch spezielle Spieltechniken, Präparierungen am Instrument und eine spezifische Mikrofonierung erreicht werden. Die Vorstellung von parallelen Tonspuren, die wie mit Reglern am Mischpult gesteuert werden, entspricht dabei einem mehrspurigen Spielen auf dem Instrument, wobei es insbesondere kurz vor den ausgeprägten «Membrandurchbrüchen» zu einer extremen Verdichtung des Materials (wie auch des Klangs) kommt. Als materiales wie auch als strukturelles Ziel von Turgor lässt sich die Annäherung – beziehungsweise das kalkulierte Verwischen der Grenzen – von akustischer und elektronischer Musik beschreiben.
Die Sounds, die nicht vom Instrument selbst stammen, sind vorwiegend jenen Bereichen von Elektromotoren entnommen, die in ihrem Verlauf charakteristische Loopeigenschaften aufgewiesen haben. Material und Form entsprechen sich in wesentlichen Grundzügen insofern, als auch der formale Gedanke aus dem mikroskopischen Fokus entspringt: Die aus dem Material gewonnenen Parameter – wie Verdichtung, Be- und Entschleunigung, „Zelldurchbrüche“ und ähnliches – wurden dabei in die formale Disposition des Stückes überführt. Musikalische Bewegung und somit formale Gestaltung entstehen jenseits der nuancierten Veränderung der Loops vor allem aus der Prämisse, dass allein ein ins Wanken geratener «idealer Zustand» Entwicklung erst ermöglicht. Wenn das Klanggewebe gestört ist (heisst: gestört wird), formt sich Verdichtung im Sinne eines sich steigernden Druckes aus, womit es zu einer zunehmenden Bewegung der «diffundierenden» Klangteilchen kommt, kurz bevor der Hörer wie durch eine Zellwand in einen benachbarten Klangraum, der zuvor bereits als «Schattenklang» erkennbar war, «gespült» wird – diese Wahrnehmung entsteht dreimal an signifikanten Stellen von Turgor, ehe das abschließende, lang ausgearbeitete Loop den «inneren Raum» verlässt und in eine erkennbar «warme», lichtere und scheinbar freiere Atmosphäre gleitet."
echoraum: Werknotizen (2020), abgerufen am 15.10.2020 [https://www.echoraum.at/reiter.htm]
Empfohlene Zitierweise
mica (Aktualisierungsdatum: 19. 6. 2023): Reiter Eva . Turgor. In: Musikdatenbank von mica – music austria. Online abrufbar unter: https://db.musicaustria.at/node/160514 (Abrufdatum: 22. 12. 2024).