Klavier (1)
Bezugsquelle: Doblinger Musikverlag
- Beschreibung
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"Christian Ofenbauers für janna polyzoides (2006), im Untertitel sein Zweites Konzertstück für Klavier und Ensemble, ist ein Werk des Abschieds, des Übergangs, des Loslassens, ja sogar des Sterbens – auf mehreren Ebenen. Eine der initialen Ideen des Komponisten war es, zu einem Text zurückzukehren, der ihm schon einmal den Anstoß zu einem Werk geboten hatte: ein Fünfzeiler des romantischen Dichters und preußischen Offiziers Friedrich de la Motte Fouqué (1777–1843).
Leben ist ein Traum nur
Ein verhallender Sang
Ein entschwallender Rauch nur
Und wir sind das auch nur
Und es währt nicht langDamals, im Jahr 1995, hatte er ein Ensemblelied auf diesen Text im Sinn gehabt und tatsächlich die Worte in der hier zitierten Fassung zunächst in eine einstimmige Gesangslinie gegossen. Während der Komposition der instrumentalen Einleitung vor dem Einsatz dieser Singstimme, die freilich direkt aus deren vorgeformtem Material abgeleitet ist, hat sich für Ofenbauer aber die Notwendigkeit des konkreten Gesangs verflüchtigt: unordentliche inseln. de la motte-fouqué-vertonung (1995) blieb schließlich als ein reines Instrumentalstück stehen, in dem der erwähnte Vokalpart nicht erklingt, sondern ihm nur mehr als Motto in der Partitur vorangestellt ist. Gut zehn Jahre später war dem Komponisten längst klar, dass er den Text auch diesmal nicht – und nicht mehr, nicht wieder – würde vertonen können, jedenfalls nicht in herkömmlichem Sinne. Seiner Trilogie von Antikenopern mit Medea (1990–94), SzenePenthesileaEinTraum (1999–2000) und Wache (2002–04) lässt er aktuell das lange geplante Satyrspiel folgen und erweitert sie damit zur Tetralogie – nach ausgedehntem Suchen und Erwägen verschiedener Sujets (Johann Nestroy, Karl Kraus, Alfred Polgar, René Pollesch) jedoch bewusst in Form eines Orchesterwerks ohne Text und Gesang, wenn auch mit der Möglichkeit zu einer freien szenischen Umsetzung. „Singstimmen werden mir immer fremder“, resümiert Ofenbauer diese Entwicklung, der seine Gesangstexte musikalisch stets so komponiert hat, dass sie möglichst gut verständlich geblieben sind und nicht etwa bloß als Steinbruch für Worte, Silben oder Laute gedient haben.
für janna polyzoides (2006) ist auch ein Dokument dieses immer konkreter, bewusster werdenden Abschieds von der Singstimme – in Form eines instrumental eingesetzten Soprans, dessen Vokale, Konsonanten und Atemgeräusche mit keiner Text- vorlage mehr in Beziehung stehen: gleichsam die letzten, übriggebliebenen Hobelspäne am Boden der Opernwerkstatt.
Eine zweite Idee war es, nach dem frühen ersten Klavierkonzert Odysseus/Abbruch/Sirenen (1989) zu diesem Genre zurückzukehren – und es beim zweiten Anlauf ein für alle Mal abzuhandeln, es gewissermaßen aufzulösen. Damals sprach das Soloinstrument noch ungebrochen, war Protagonist und Partner, Wortführer und Gegenspieler, dem Orchester in traditioneller Weise gegenübergestellt. Im Violinkonzert fancies (fancy-papers) 1997 hingegen beginnt die Solostimme schon, sich auf besondere Weise im Gesamtklang zu verlieren, sich zu verflüchtigen. Im vorliegenden Werk ist dies nun auf die Spitze getrieben: Das Klavier mit seinem anfangs nicht vom Fleck kommenden, wiederholten Einzelton bedeutet eine radikale Schwundstufe des Solistischen, die Negation der Virtuosität. Das heißt freilich nicht, dass das Werk deshalb leicht zu spielen wäre, im Gegenteil – nur sind die Heraus- forderungen andere: etwa eine spezielle Verbindung von Diskretion und Präsenz. „Janna Polyzoides kann genau das auf besonders eindrucksvolle Weise“, sagt der Komponist: „Nicht ohne Grund trägt das Stück ihren Namen im Titel“. Der dritte Einfluss auf die Partitur war der erschütternde Bericht von der öffent- lichen Hinrichtung zweier iranischer Jugendlicher: Ein Zeitungsauschnitt klebt in Ofenbauers Skizzenbüchern.
für janna polyzoides (2006) entfaltet sich in statisch anmutenden Abschnitten; sie sind indes verschieden genug, um eine Entwicklung zu formen und ähnlich genug, um diese in kleinen Schritten voranzutreiben. So wie sich der Klavierpart zugleich in Tonraum und Gestik erweitert, um gerade dadurch in den Ensembleklang zurückzusinken, gliedert sich auch die dichter werdende Singstimme immer weiter ins Gesamtgeschehen ein: Wo zunächst, wie eingangs beschrieben, noch eine distinkte Bruchstelle zu hören war, verschmelzen nach und nach alle Klänge zu einer vielgestaltigen Einheit, vollziehen eine gemeinsame Metamorphose: Die Grenzen zwischen Porzellan und Gold verwischen, um im gewählten Bild zu bleiben. Und immer stärker beschleicht einen der Gedanke, man vernehme hier Botschaften aus einem Zwischenreich – nicht mehr da, noch nicht dort, aber unaufhaltsam auf dem Weg. Dabei können sich durchaus auch andere literarische Gedankenverbindungen einstellen: Alexander Lernet-Holenias Novelle Der Baron Bagge (1936) etwa, wo die Wiederkehr noch gelingen mag, aber beim Reisenden unauslöschliche Spuren hinterlässt; Ambrose Bierces Kurzgeschichte An Occurrence at Owl Creek Bridge (1890), wo es kein Zurück mehr gibt. Es ist, als würde diese Musik eine letzte Sekunde dokumentieren, gleichsam mikroskopisch vergrößert auf die Dauer von mehr als einer halben Stunde. Diese Dehnung hat auch etwas Unbarmherziges, die beklemmende Wirkung wächst im Laufe des Stücks an: Mit immer festerem Griff scheinen einem die Klänge an die Kehle zu greifen und zuzudrücken. Es ist gar nicht nötig, de la Motte Fouqués Verse zu kennen, um ihre Schlüsselbegriffe hier nachvollziehen zu können. Hören wir im „verhallenden Sang“ der Stimme die Jammerlaute der Eurydike, die ihrer irdischen Sprache längst beraubt ist? Die Reste ihrer Rede, während sie unaufhaltsam zurückweht ins Schattenreich? Verwandelt sich das Ganze in eine orphische Klage?
„Ja, aber in dem Beklemmenden der Musik liegt für mich zugleich auch etwas Flirrendes, Überirdisches – und etwas ungemein Liebevolles. Die Klänge tragen den Hauch der Zärtlichkeit in sich“, ist Janna Polyzoides überzeugt. Zum Gänsehaut verur- sachenden Ausdruck für das Überschreiten der letzte Schwelle, von der es keine Umkehr mehr geben kann, wird jedenfalls der Schlussteil – dort, wo zuerstHarfen, dann auch die Bläser schon verstummt sind und wenig später auch das sehr zart eingesetzte Schlagwerk das Feld schließlich nur noch Sopran, Streichern und Klavier überlässt. Ausgehend vom c1, dem Initialton in diesem Konzertstück, hat die Pianistin oder der Pianist das Instrument punktuell zu verstimmen: in Oktavschritten abwechselnd nach oben und unten jeweils eine Saite des Chors der gerade leise angeschlagenen Taste um einen Viertel-, Halb- oder Achtelton. Eine rasche Figur durch alle Oktaven des Tons c steht am Ende der Klavierstimme, surreal verbeult, ein „entschwallender Rauch“. Was auf dem Papier nach nicht viel aussehen mag, vibriert geradezu vor Symbolgehalt: Das Klavier gerät außer sich, überschreitet seine gesunden Grenzen, nimmt gleichsam Schaden, vernarbt. Niemals könnte es sich aus eigener Kraft ohne viel Aufwand regenerieren und im nächsten Moment unbeschwert, sagen wir, eine Clementi Sonate von sich geben. Das Endgültige, Unumkehrbare, „The undiscovered country from whose bourn / No traveler returns“ – hier wird es auf exemplarisch suggestive Weise Klang. Hier erklingt eine Todesmusik, beendet durch das letzte, gebieterische „sch“ der Singstimme. „Wir konnten dieses Verstimmen ja nicht wirklich proben“, erzählt Janna Polyzoides, „nur sozusagen im Trockentraining. Denn das Klavier hätte jedes Mal von Grund auf neu gestimmt werden müssen, ein Ding der Unmöglichkeit.“ So führte die Arbeit immer nur an diese Schwelle heran, das eigentliche erste musikalische Überschreiten der Grenze konnte erst die Uraufführung bringen, die hier als Livemitschnitt dokumentiert ist. „Gottlob ist auch keine Saite gerissen, das hätte schlimm enden können. Ich weiß noch, wie es danach totenstill war im Saal. Das Publikum war ergriffen, manche Menschen waren fassungslos.“
Zieht Ofenbauer selbst bei für janna polyzoides (2006) in der abschnittsweisen Gliederung der Form noch Parallelen zu Morton Feldman, ist die halbstündige Textur des Klavierstücks 2018 so dicht gearbeitet und unmerklich weiterentwickelt, dass keinerlei Nahtstellen wahrnehmbar sind. „Schwebend, aber nicht zu schnell“, lautet die Vortragsbezeichnung des 2018/19 auf eine Anregung von Marcel Richters entstandene Werk, in hypnotischer Regelmäßigkeit tropfen zunächst Töne ppp in zwei ähnlichen, jedoch nicht parallelen absteigenden Linien herab, um unablässig wieder neu oben anzusetzen; Stimmen und Zusammenklänge verschwimmen zu Farben, das anfangs so klare Pulsieren der kurzen Achtelnoten intensiviert sich zu immer komplexeren rhythmischen Figuren. „Man ist beim Klavierstück 2018 jedes Mal wieder überrascht, dass man plötzlich im Dichteren gelandet ist, weil man einfach nicht merken kann, wo und wie es sich verdichtet hätte“, fasst Janna Polyzoides das auf acht Notenseiten nieder- gelegte Paradoxon in Worte. „Nie hat man das Gefühl, hier oder dort würde ein neuer Abschnitt beginnen, Entwicklung und Spannung sind bis zum letzten Ton aufrecht: Ich wüsste nicht, welchem Komponisten das ähnlich perfekt gelungen wäre.“ Die Intensität von Polyzoides’ Vortrag erwächst freilich aus ihrer spezifischen Arbeitsweise: „Ich spiele nicht intellektuell, soll heißen: rein analytisch, bloß mit abstrakter Bewältigung von Griffen oder Akkorden. Die technisch korrekte Ausführung allein transportiert ja auch noch keinen musikalischen Inhalt. Sondern ich kann nur Musik spielen, die ich auch hörend genau erfasst habe. Es geht mir da nicht um die bloßen Tonfolgen, die sind ganz leicht zu begreifen, sondern darum, die verschiedenen Ebenen unabhängig voneinander wahrnehmen zu können – wie bei einer Fuge. Es war überaus spannend, schließlich die einzelnen Stimmen nachzuvollziehen und die Verläufe auch nach außen hin klar zu machen.
Lässt sich für janna polyzoides (2006) aus dem Blickwinkel des Klaviers wie ein Postludium begreifen, kommt das Klavierstück 2018 eher einem Präludium gleich, einem emphatischen Aufbruch in eine andere Welt des Instruments. Vor allem auf der letzten Seite löst sich das Klavier von seinem herkömmlichen Klang: Viele Sostenutoklänge sowie ganz laute Töne nur in der Mittellage bringen es dazu, auf merkwürdige Weise zu singen. Dieses Moment von Transzendenz schlägt eine Brücke zurück zum Schlussteil des Konzerts mit seinen Schreckensahnungen, wo namentlich auch die menschliche Stimme und die lang gezogenen Streichertöne klanglich einander in einem geräuschhaften Zwischenreich begegnen, sich vermischen, auf beinah gespenstische Weise ununterscheidbar werden: verhallender Sang, entschwallender Rauch."
Walter Weidringer, CD booklet, paladino music, abgerufen am 31.03.2022 [https://www.paladino.at/sites/default/files/downloads/pmr0112_ofenbauer_iTunesBooklet_FIN.pdf] - Aufnahmen
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Aufnahmen
Titel: Christian Ofenbauer. Für Janna Polyzoides
Jahr: 2021
Label: Paladino
Mitwirkende: Janna Polyzoides (Klavier)
Titel: Christian Ofenbauer: Klavierstück (2018) UA Jan Gerdes piano
Plattform: YouTube
Herausgeber: Jan Gerdes
Datum: 31.01.2021
Mitwirkende: Jan Gerdes (Klavier)
Weitere Informationen: Live Mitschnitt der uraufführung am vom 29.9.2020,BKA Berlin
Titel: Klavierstück 2018
Plattform: YouTube
Herausgeber: Janna Polyzoides – Thema
Datum: 30.07.2021
Mitwirkende: Janna Polyzoides (Klavier)
Weitere Informationen: Paladino CD Aufnahme
Empfohlene Zitierweise
mica (Aktualisierungsdatum: 4. 4. 2022): Ofenbauer Christian . Klavierstück 2018. In: Musikdatenbank von mica – music austria. Online abrufbar unter: https://db.musicaustria.at/node/205015 (Abrufdatum: 23. 12. 2024).