Reise nach Comala

Werktitel
Reise nach Comala (Viaje a Comala / Journey to Comala)
Untertitel
Musiktheater basierend auf der Novelle "Pedro Páramo" von Juan Rulfo
KomponistIn
Beteiligte Personen (Text)
Rulfo Juan, Nolte Stefan (Libretto)
Entstehungsjahr
2015–2017
Dauer
2h
Genre(s)
Neue Musik
Gattung(en)
Oper/Musiktheater
Elektronische Musik
Besetzung
Solostimme(n)
Kammerorchester/Ensemble
Elektronik
Besetzungsdetails

SprecherInnen/SchauspielerInnen (7), Stimmen (8), Ensemble (9), Electronik (2)

Rollen: Pedro Páramo, Juan Preciado, Tilcuate, Father Renteria, Bartolomé, Revolutionary, Susana, Naked Woman, Fulgor, Priest from Contla, Revolutionary, Eduviges, Damiana, Dorotea, Revolutionary, Abundio, Miguel, Naked Mann, Revolutionary

Art der Publikation
Manuskript

Uraufführung
16. Mai 2017 - Zürich, Theater der Künste, Bühne A (Schweiz)
Mitwirkende: Vokal Ensemble Zürich, PHACE | CONTEMPORARY MUSIC, Peter Siegwart (dir), André Willmund (Pedro Páramo), Jonas Rüegg (Juan Preciado, Tilcuate), Ingo Ospelt (Father Renteria, Bartolomé, Revolutionary), Mona Petri (Susana, Naked Woman), Lukas Waldvogel (Fulgor, Priest from Contla, Revolutionary), Jessica Früh (Eduviges, Damiana, Dorotea· Revolutionary), Joachim Aeschlimann (Abundio, Miguel, Naked Mann, Revolutionary)

Handlung

"Juan Preciado kommt nach Comala, um seinen Vater zu finden und sein Erbe zu fordern. Doch statt der Idylle, die seine Mutter ihm auf dem Totenbett beschrieben hat, findet er sich in einer verfallenen Geisterstadt wieder. In den Ruinen trifft er auf letzte Bewohner, die ihm von seinem Vater, dem Großgrundbesitzer Pedro Páramo, berichten. Mehr und mehr verwirrt sich Juan Preciados Erleben. Sprechen da Tote oder Lebende? Halluziniert er? Schließlich findet er sich selbst im Grab im Zwiegespräch mit anderen Toten wieder.

Unterbrochen wird die Geschichte durch Fragmente von Szenen, die vom Aufstieg des Vaters zum mächtigen und skrupellosen Alleinherrscher über Comala erzählen. Eine weitere Ebene bilden die Erinnerungen Pedro Páramos an seine verlorene Jugendliebe Susana San Juan.

Im zweiten Teil wird aus verschiedenen Perspektiven die Geschichte von Comala unter der gewaltsamen Herrschaft Pedro Páramos bis zum Untergang des Dorfes erzählt. Verstrickt ist das halbe Dorf: Gutsverwalter, Rechtsanwalt, Pater, Dienstpersonal, Zuträgerinnen und Kupplerinnen. Nur Susana San Juan, die Jugendliebe des Patriarchen, entzieht sich ihm, als sie endlich nach Comala zurückkehrt. Ihre Tagträume kreisen um ein befreites, erotisch erfülltes Leben. Die mexikanische Revolution erreicht Comala, doch auch die Revolutionäre lassen sich von Pedro Páramo kaufen. Das Landvolk leidet weiter. Die Toten kauen als Unerlöste selbst im Grab noch die alten Geschichten immer wieder durch. Juan Preciado - nun selbst ein Toter - lauscht ihren Stimmen. Als Susana stirbt und im Dorf ein lärmendes Fest gefeiert wird, beschließt Pedro Páramo sich zu rächen. Er legt die Hände in den Schoß und lässt Dorf und Land verdorren."
Stefan Nolte: GEDANKEN ZU „REISE NACH COMALA“, abgerufen am 24.07.2020 [http://www.toro-perez.com/works/viaje-a-comala#deutsch]

Entstehung

""Reise nach Comala" ist das Ergebnis eines langen Entstehungsprozesses. Die erste Annäherung an eine Musik nach dem Roman "Pedro Páramo" im Jahr 2003 führte zunächst zur Komposition der "4 Studien nach Juan Rulfo" für Klarinette, Fagott, Horn, 2 Violinen, Viola, Violoncello und Kontrabass. Die damals selbstdefinierte Aufgabe bestand darin, "Möglichkeiten der melodischen Gestaltung im Hinblick auf ein Musiktheaterprojekt" auszuloten. Damals schrieb ich Folgendes für das Programmheft: "Rulfos Gesamtwerk (ein Roman und 17 Erzählungen) skizziert eine fragmentarische, durch Hoffnungslosigkeit und Einsamkeit geprägte Welt vor dem Hintergrund der mexikanischen Revolution. Seine Sprache, rau und ungeschminkt, ist Sprache des Mythischen, des Ureigenen, Sprache der Erinnerung, der Reflexion, Sprache der Kritik".

Diese Zeilen zeigen bereits deutlich das bis heute unveränderte Hauptanliegen des Werkes: die Auseinandersetzung mit der dichterischen Sprache Rulfos. Wie in keinem anderen literarischen Werk konnte ich in seiner knapp gehaltenen Prosa das Wesen der Kultur Lateinamerikas erkennen: eine Welt im Spannungsfeld von Mythos und Modernität. Comala ist ein mythischer Ort, eine vorhistorische, archaische Gesellschaft, in der die Menschen Spielball von Kräften von Gewalt, Aberglauben, Abhängigkeit und Lust sind. Die Mexikanische Revolution sollte der Katalysator einer Umwälzung werden, die Lateinamerika aus der kolonialistischen Entmündigung in die Modernität hätte führen sollen. Scharfsinnig demaskiert Rulfo die Revolution als blinden Vorgang, in dem Gewalt als Spiel ausgelebt und von den herrschenden Klassen manipuliert wird. Ein Jahrhundert später und nach Ereignissen wie der Ermordung von 43 Studenten in Iguala 2014, verkommt sie heute bestenfalls zur Folklore. Die Revolution frisst ihre Kinder auf.

Dennoch: eine Musik zu Rulfo sollte sich in der Formulierung des musikalischen Materials primär auf die unterschiedlichen Sprachqualitäten seiner Figuren beziehen. Der 2004-2006 geschriebene Zyklus "Rulfo/Voces/Ecos" für Streichtrio und Elektronik stellte die Stimme von Susana Juan in den Mittelpunkt. Ihr gelingt es als einziger Figur im schicksalhaft erscheinenden Abhängigkeitsgefüge trotz dreifacher männlicher Unterdrückung ihre Autonomie zu bewahren und sich der Gewalt- und Abhängigkeitsstruktur wenigstens zu widersetzen. In diesem Werk nahm die gesuchte melodische Gestaltung, zumindest im instrumentalen Bereich, klare Formen an - aber auch andere Aspekte wurden sichtbar: Monodie, Fragmentierung, Resonanz und das Auf- und Absteigen als Grundmotiv Comalas.

Nach einem Versuch, selbst ein Libretto und erste Teile des Stückes zu schreiben ruhte das Projekt für einige Jahre, bis die Begegnung mit Stefan Nolte und die Zusammenarbeit mit ihm im Rahmen des künstlerischen Forschungsprojektes "Disembodied Voice" an der ZHdK im Jahre 2012 es wieder in Bewegung setzten. Die Erfahrung des Theaters und der gründlichen Arbeit am Text und an der Sprache, damals basierend auf Elfriede Jelineks Nobelpreisrede "Im Abseits", ermöglichten mir eine konkrete Vorstellung einer Umsetzung von "Pedro Páramo" als Musiktheater. In Stefan fand ich ein ideales Gegenüber, um das Projekt auszureifen und musiktheaterfähig zu machen. Die gemeinsame konzeptionelle Phase nahm noch anderthalb Jahre in Anspruch, bevor das Libretto schliesslich Ende 2014 fertig wurde.

Massgeblich für die Realisierung des Projektes war aber eine weitere Begegnung: Als Peter Siegwart mich 2013 einlud, ein Stück für das Vokalensemble Zürich zu schreiben, sagte ich unter der Bedingung zu, Textfragmente verwenden zu dürfen, die bereits für "Reise nach Comala" vorgesehen waren. So entstanden die "Cantos de Sombras" (Schattengesänge), die nun in vier Szenen im Musiktheater zu hören sind. In dieser Arbeit durfte ich dem Chorgesang wiederbegegnen, der in Bogotá der frühen 80er Jahren so entscheidend für meinen Weg in die Komposition gewesen ist. Die 2013 während einer Residenz in Litauen geschriebenen Sätze (Szenen 3 und 25) bilden die Basis für die Vokalsprache von "Reise nach Comala". In diesem Werk experimentierte ich zum ersten Mal mit der Kombination von Stimmen mit generativen elektronischen Klängen, die in "Reise nach Comala" als akustisches Bühnenbild fungieren.

Im Februar 2015, unmittelbar vor Beginn der Komposition, hatte ich schliesslich die Möglichkeit, die Landschaften und Orte Mexikos zu bereisen, in denen Rulfo seine Kindheit verbrachte. Die karge Landschaft zwischen dem Vulkan Colima und dem Ort San Gabriel in der Provinz Jalisco, wo Rulfo im Haus seiner Grossmutter seine Schulzeit verbrachte, waren prägend für die akustische Vorstellung der Welt Comalas."
Germán Toro Pérez: ÜBER DIE ENTSTEHUNG VON „REISE NACH COMALA“, abgerufen am 24.07.2020 [http://www.toro-perez.com/works/viaje-a-comala#deutsch]