unordentliche inseln/de la motte fouqué-vertonung

Werktitel
unordentliche inseln/de la motte fouqué-vertonung
Untertitel
Für Ensemble
KomponistIn
Entstehungsjahr
1995
Dauer
25m
Genre(s)
Neue Musik
Subgenre(s)
Modern/Avantgarde
Tradition/Moderne
Gattung(en)
Ensemblemusik
Besetzung
Kammerorchester/Ensemble
Besetzungsdetails

Orchestercode: 2/0/2/0 - 1/2/0, BPos/0 - Vibr, Pf, Cel - StrQuint

Flöte (2), Klarinette (2), Horn (1), Trompete (2), Bassposaune (1), Vibraphon (1), Klavier (1), Celesta (1), Violine (2), Viola (1), Violoncello (1), Kontrabass (1)

ad Flöte: beide auch Piccoloflöte
ad Klarinette: auch Bassklarinette

Art der Publikation
Verlag
Titel der Veröffentlichung
unordentliche inseln/de la motte fouqué-vertonung

Bezugsquelle: Doblinger Musikverlag

Beschreibung
"„Die Musik ist nicht an und für sich so bedeutungsvoll für unser lnnres, so tief erregend, dass sie als unmittelbare Sprache des Gefühls gelten dürfte; sondern ihre uralte Verbindung mit der Poe­sie hat so viel Symbolik in die rhythmische Bewegung, in Stärke und Schwäche des Tones gelegt, dass wir jetzt wähnen, sie spräche direkt zum Innern und käme aus dem Innern. Die dramatische Musik ist erst möglich, wenn sich die Tonkunst ein ungeheures Bereich symbolischer Mittel erobert hat, durch Lied, Oper und hundertfältige Ver­suche der Tonmalerei. Die ,absolute Musik' ist entweder Form an sich, im rohen Zustand der Musik, wo das Erklingen in Zeitmaß und verschiedener Stärke überhaupt Freude macht, oder die ohne Poesie schon zum Verständnis redende Symbolik der Formen, nachdem in langer Entwicklung beide Künste verbunden waren und endlich die musika­lische Form ganz mit Begriffs- und Gefühlsfäden durchsponnen ist. [...] An sich ist keine Musik tief und bedeu­tungsvoll, sie spricht nicht vom ,Willen', vom ,Dinge an sich'; das konnte der lntellekt erst in einem Zeitalter wähnen, welches den ganzen Umfang des innern Lebens für die musikalische Symbolik erobert hatte. Der lntellekt selber hat diese Bedeutsamkeit erst in den Klang hineingelegt: wie er in die Verhältnisse von Linien und Massen bei der Architektur ebenfalls Bedeutsamkeit gelegt hat, welche aber an sich den mechani­schen Gesetzen ganz fremd ist."
Nietzsche

Wie unscheinbar das sensationellste Moment dieser Passage formuliert ist, erstaunt: die Reduktion der materiellen Bestimmung der Musik auf sage und schreibe nur noch zwei Parameter, nämlich „rhythmische   Bewegung" sowie „Stärke und Schwäche des Tones", zur Einheit des Phänomens sodann zusam­mengefasst als „Erklingen in Zeitmaß und verschiedener Stärke". Melodik und Harmonik kommen überhaupt nicht mehr vor. Es ist, als hätte Nietzsche, der ein großer Antizipator war, schon jene Theorie gekannt und stillschweigend vorausgesetzt, die erst anfangs der zweiten Hälfte des 20 . Jahrhunderts von Karlheinz Stockhausen entworfen ward, um die Möglichkeit des integralen seri­ellen Konstruktivismus zu fundieren: Tonhöhen und Klangfarben seien, weil durch Schwingungsvorgänge in der Zeit hervorgebracht, die sich durch ihre Pha­senlängen jeweils definieren, eben in Wahrheit auch nichts anderes als Rhyth­men - ,,Mikrorhythmen" halt - , die sich von den anderen - den „Makrorhyth­men" - zwar durch ihre spezifische Wahrnehmungsqualität kategorial unter­scheiden, aber denselben kompositionstechnischen Organisations­prinzipien unterworfen werden können wie alles Zeitliche hinieden. Man unter­schätze also nicht die Avanciertheit des Musiktheoretikers Nietzsche, dessen Reflexionen allerdings im Hinblick auf Christian Ofenbauers unordentliche inseln / de la motte-fouqué-vertonung mehr unter dem zu mannigfaltigen Zwei­feln, letztlich zur Verzweiflung ein­ ladenden Aspekt der „Bedeutsamkeit" von Geschriebenem und Erklingendem interessieren. Historisch zugegangen sein könnte es nämlich folgender­ maßen. Als die „uralte Verbindung" zwischen Poesie und Musik, einer der ehwürdigsten Bestände wohl sogar aus dem phylogenetischen Inventar der Menschheit, endgültig zerbrochen war, weil Geschichte alles auflöst, entstand als Versuch, den verlorengegangenen Sinn des Verhältnisses zwischen Wort und Ton zu rekonstruieren, ja ihre Vereinigung neu zu stiften, die Vertonung. Sie ist also eine willentlich veranstaltete Operation des kompositorischen Sub­jekts, nichts diesem natürlich oder kul­turell Verbürgtes, mögen auch Bräuche auf diesem Gebiet eingerissen und ganze Gattungen aufgekommen und wieder verschwunden sein: schließlich gehört die allermeiste Vokalmusik - einschließlich sogar liturgischer Formen - im  Kulturkreis  des alphanumerischen Codes dem Vertonungstypus zu. Dieser ist selbstredend einem Kompo­nisten, der unlängst eine Oper vollendet hat, konstitutionell nicht fremd, technisch ohne Einschränkung zugäng­lich und im Prinzip kaum unsympa­thisch. Den Wunsch, Friedrich de la Motte-Fouqués außerordentliche Zeilen, die einem den Atem stillstehen lassen, zu vertonen, kann man ihm nachfühlen, muss sich aber, um den Fortgang des Abenteuers zu verstehen, wenn nicht sofort, so doch nach und nach von der dilettantischen Vorstellung verabschie­den, der Künstler sei in dieser Welt der­jenige, dem es vergönnt sein möchte, sich seine Wünsche - zumindest seine künstlerischen - zu erfüllen. Zum Problem wurde ihm nämlich zunächst die Präsenz einer Sängerin im Stück. Wieso? Mag er keine Sängerinnen? O ja, wahr­scheinlich sogar sehr. Allein, darauf kommt es nicht unbedingt an, denn es könnte sein, dass eine Musik, die als Phänomen so wenig mit der Cageschen gemein hat wie die Ofenbauersche, ihr in einem einzigen Punkt, den man frei­lich nicht gleich für ihr Wesen zu halten braucht, gleicht: vielleicht ist sie relativ unabhängig von den Vorlieben und Abneigungen ihres Verfassers. Dass es darüber eine ältere, leider mittlerweile vergessene Theorie gibt, soll noch gestreift werden, wenn der narrative Teil dieser Einführung vorüber ist. Die Sängerin rückte also in einem fortge­schritteneren Stadium des Komposi­tionsprozesses ans Ende des Stückes, was aber nicht reichte, sie dem Kom­ponisten - oder der Komposition? - erträglich zu machen; vielmehr wurde sie zum Gegenstand von Erwägungen darüber, ob sie mit dem Rücken zum Publikum singen oder ob gar als Substitut ein Tonband mit dem elektroaku­stischen Abbild ihrer Stimme in die Aufführung „einzuspielen" sei. Es erfolgte dann das, was Ofenbauer als „Umlenkung" beschreibt: „Das Ganze hat sich in eine andere Richtung ent­wickelt."

Der Vokalpart verflüchtigte sich zu Nichts. zugleich ging er zur ästhetischen Totalität auf: er wurde der geheime Bau­plan des Stücks. Der Instrumentalparti­tur, in welche gemäß der Hegelschen „Furie des Verschwindens" und der Adornoschen „negativen Dialektik" die Vertonungsabsicht umgeschlagen ist, steht als Lesemotte eine Vertonung der de la Motte-Fouquéschen Worte im Vio­linschlüssel, aber nicht für Singstimme, voran: nicht aufzuführen. Diese textier­ten und für die Imagination des Lesers durch minutiöseste Vortragsbezeich­nungen gesicherten Noten sind die eigentliche Programmeinführung in unordentliche inseln / de la motte-fou­qué-vertonung, die keine Vertonung ist, ähnlich wie das über diesen Zeilen ste­hende Nietzsche-Motto diese Pro­grammeinführung expliziert, die keine ist.

Die „Umlenkung" entband manche für Ofenbauer neue Techniken, deren denkbare - oder undenkbare - Folgen in sei­nem künftigen Œuvre dahinstehen, deren Ort in diesem Stück jedoch genau definiert ist: Wiederholung von Partikeln als Beitrag zur Schwebe, in der das Ganze gehalten wird, dessen Formsinn mitnichten von einem Anfang zu einem Ende läuft. Gemeint ist Ewigkeit, doch „es währt nicht lang". Der leise Schluss ist, wie der Komponist durchblicken ließ, „ein Rest der Sängerin". -  Nimmt man die „umgelenkte" Komposition als einen Sieg des Werks über den Künst­ler, so muss, um das kunsttheoretische Verständnis eines derartigen Vorgangs nachzuholen, jetzt an Willi Baumeisters  Buch Das Unbekannte in der Kunst erin­nert werden, das im zweiten Weltkrieg, während der deutschen Mörderherr­schaft, auf der Flucht vor der Gestapo geschrieben und 1947 publiziert worden ist. Den Kern der Baumeisterschen Abhandlung bildet die These, dass Epi­gonen und originalen Künstlern die fast unvermeidliche Gemeinsamkeit eignet, dass sie sich Ziele vornehmen, die sie zu erreichen trachten; diese Ziele sind prin­zipiell bekannt, zumindest den jeweili­gen Künstlern. Epigonen zeichnen sich nun dadurch aus, dass sie ihre Visionen

- vorausgesetzt, es gebricht ihnen nicht am erforderlichen technischen Können

- zu verwirklichen verstehen: es ist ihre Funktion, die Kultur des Bekannten zu tragen. Originalen Künstlern hingegen misslingen ihre Absichten, weil ihre Arbeit Eigenkräfte entwickelt, die so stark sind, dass der Künstler nichts gegen sie vermag. ,,Objektive" Kräfte, wie sie stets in der Erzeugung authen­tischer Kunstwerke wirken, scheren sich um nichts, am allerwenigsten darum, ob der Künstler selber sie begrüßt oder beklagt: sie gravitieren ins Unbekannte. Daher wird Fortschritt einzig durch sie ermöglicht. Für das Maß ihrer Abwei­chung von der Zielgeraden der künstle­rischen Intention führte Baumeister den Begriff des „schöpferischen Winkels" ein. Offenbar ist er im Falle von unordentliche inseln / de la motte-fouqué­ vertonung beträchtlich."
Heinz-Klaus Metzger, Werkbeschreibung,
Musikprotokoll im Steirischen Herbst, abgerufen am 31.03.2022 [https://musikprotokoll.orf.at/1995/werk/unordentliche-inseln-de-la-motte-fouque-vertonung]

Auftrag: Musikprotokoll im Steirischen Herbst, Klangforum Wien

Uraufführung
7. Oktober 1995 - Grazer Congress
Veranstalter: Musikprotokoll im Steirischen Herbst
Mitwirkende: Klangforum Wien, Johannes Kalitzke (Dirigent)