Kommt Sirenen klagt.

Werktitel
Kommt Sirenen klagt.
Untertitel
Motette über die Figur der doppelten Helena
KomponistIn
Beteiligte Personen (Text)
Staffel Tim
Entstehungsjahr
1998
Dauer
13m
Genre(s)
Neue Musik
Subgenre(s)
Modern/Avantgarde
Tradition/Moderne
Gattung(en)
Ensemblemusik
Sprache (Text)
Deutsch
Besetzung
Solostimme(n)
Quartett
Besetzungsdetails

Solo: Sopran (1)

Klarinette (1), Violine (1), Hammondorgel (1), Klavier (1)

Art der Publikation
Verlag
Titel der Veröffentlichung
Kommt Sirenen klagt

Bezugsquelle: Doblinger Musikverlag

Beschreibung
"Eine einjährige Schaffenspause war nötig, um es Ofenbauer nach Fertigstellung der Medea möglich zu machen, andere Klangwelten aufzusuchen. Dieser neue Abschnitt seiner künstlerischen Entwicklung wendet sich weg vom Abbruchhaften, vom Sturz in den Kontrast, von der harschen Fr agmentarik. Im Rückblick erscheint dem Komponisten heute vieles an älteren Werken wenig interessant, manches gar als „Krach”. Leisere, beinah textile Webstrukturen werden nun vorgeführt, musikalische Zustände ausgebreitet, um dann in manchen Fällen langsam, im Verlauf eines ganzen Stücks, in einen anderen hinüberzugleiten.

In Kommt Sirenen klagt , als Auftragsarbeit für die Hörgänge Ende Deze mber 1998 vollendet und Dr. Rudolf Führer zum 60. Geburtstag gewidmet, erscheinen die zentralen Anliegen in Ofenbauers aktuellem Schaffen in besonderem Maße gebündelt. Tim Staffels Text nimmt Bezug auf jene schon bei Euripides literarisierte Version des Mythos, bei der die „echte” Helena durch Göttergunst nach Ägypten versetzt worden sei, Paris bloß ei n Trugbild geraubt habe (das Gemetzel des Troischen Krieges erscheint dadurch vollends sinnentleert und allein als Erfüll ung ungnädig harten Schicksals) und Menelaos seine wahre Gattin nach Troias Fall erst unter neuerlichen Entbehrungen habe suchen müssen.

Im wilden Außen, schwebend, senza espressivo lautet die typisch Ofenbauersche Vortragsbezeichnung, matt, teilnahmslos habe die Sopranistin ihren Part vorzutragen, der nicht als Hauptstimme zu fungieren hat, sondern vom Instrumentalensemble dynamisch immer wieder zugedeckt wird. - In der Betonung des senza espressivo spiegelt sich eine grundsätzliche Haltung des inneren Abrückens, des bewussten Einnehmens einer nötig er scheinenden Distanz – eine für den Komponisten relativ neue Attitüde. Ofenbauers Musik vor allem der 80er-Jahre eignete ja in besonderem Maße ein Zug ins Gestenhafte, Expressive (in schon etwas abgeschwächter Form lässt sich dies auch noch an der Medea ablesen), dessen Wurzeln und Urbild bekanntermaßen in der Wiener Schule zu finden sind, und dort wie da wurde solches oft, mehr oder minder fundiert, als Romantizismus kategorisiert. Doch: „Reinige dein Denken, lös es von Wertlosem”, hatte Schönberg schon seinen Moses sprechen lassen. Ofenbauer will dieses gestische Element aus si ch gleichsam auskehren, und kann unter anderem bereits auf Werke wie die Zwei Stücke für acht Flöten (1996), den Streichquartettsatz (1997) oder das Violinkonzert fancies (fancy-papers) von 1997 verweisen, die diese Abkehr deutlich in sich tragen. In die gleiche Kerbe schlagen auch die markanten Zäsuren, die – das Bild trifft doppelt zu – Kerben schlagen in die Struktur des Werkes. Schon seit ...wie eine Nachtmusik (1986) für großes Orchester verwendet er Fermaten über Taktstrichen, oft durch Sekundenangaben präzisiert. In Kommt Sirenen klagt unterstreichen sie nicht nur die Gliederung der Form, sondern in einem letzten Stadium der kompositorischen Arbeit wurde jede Seite des Manuskripts noch einmal daraufhin überprüft, ob sie nicht eines zusätzlichen Halts bedürfe – so werden Brechungen, Distanzierungen, Verwerfungen erzeugt, die das Werk ebenso benötigt wie sein Autor, wobei Ofenbauer selbst am liebsten von „epileptischen Anfällen” spricht, die er dem Stück zufüge, verordne oder oktroyiere.

Der Rekurs auf die Gattungsbezeichnung „Motette” rührt daher, dass dem Werk, ausgehend von Staffels Text, ein strenger mathematischer Bauplan zugrunde liegt: die 308 Silben der Vorlage lassen sich in vier gleichlange Abschnitte zu je 77 Silben gliedern (dabei müssen keine Worte zerteilt werden!), die in jeweils genau 32 Takten auftreten. (Die Viertelung ist dabei nicht bloß Umsetzung eines zufälligen, rechneri schen Resultats, sondern sozusagen intendiert, da der Komponist die zuweilen bis zur Stupidität verkommenen dreiteiligen Anlagen des Schemas A-B-A mit mehr oder minder mechanistischen Reprisen-Varianten unbedingt meiden will.) Ein quasi serieller Raster von 308 verschiedenen Dauern streift dem Stück ein weiteres Ordnungsgitter über.

Hinzu tritt nun noch das nicht geringe Vorhaben, eine Größe für die Neue Musik wiederzugewinnen, durch deren Verlust sie einst mitbestimmt worden war und wird: nämlich das distinkte Bewusst sein einer harmonischen Fortschreitung. Auf Grundlage seiner diesbezüglichen Erfahrungen, die er bei der Komposition der Zwei Frankfurter Préludes (1997/98) mit ihren retrograden Entwicklungen sammeln konnte, entwarf Ofenbauer für Kommt Sirenen klagt einen fortlaufenden harmonischen Grundriss vielstimmiger, zum Teil vierteltöniger Akkordaggregate mi t sozusagen regelgerecht liegengelassenen, gemeinsamen Tönen. Jede der tektonischen Ebenen, die in ihrer Gesamtheit Kommt Sirenen klagt konstituieren, besitzt ihre eigene Fließgeschwindigkeit; das in sich Changierende, die gegenläufigen Schraubenbewegungen, die die Gesamtanlage ausmachen, rührt von folgenden Überlagerungen her: Die Tak tanzahl der vier Teile bleibt gleic h, hält also am stabilen fest. Das Aufführungstempo steigert sich aber, verdoppelt sich beinahe, die Te ile werden also „kürzer”. Umgekehrt vollzieht sich die Pendelbewegung des Instrumentariums zwischen den Tönen des „geltenden” Akkords zu Anfang des Stücks so schnell, dass ein Vertikalschnitt jenes bekannte harmonische Grau Neuer Musik ergäbe. Erst im weiteren Verlauf sinkt die Geschwindigkeit dieses Geschehens, die Einzeltöne können sich festsetzen, ohne dass der Zusammenhang verloren ginge – vermöge dieser Verlangsamung kehrt die Harmonik als wahrnehmbare Größe zurück.

Soweit nur das hoch elaborierte Konzept. Während der Ausa rbeitung erwuchsen jedoch schon bald, nämlich bereits am Ende des ersten Formteils, Probleme aus der bloßen Rolle eines „Vollstreckers”, die sich der Komponist durch die rigorose Vororganisation hatte zuschreiben müssen. Ofenbauer fand den Ausweg aus dieser Krise, die andernfalls vermutlich den vorzeitigen Abbruch der Arbeit bedeutet hätte, in einem bewussten Wider-den-Stachel-Löcken, einer – letztlich allerdings ebenfalls strukturell abgesicherten! – Aufweichung seines Tuns als eigenes Vollzugsorgan: Das dynamisch hauchzarte, fragile Gespinst Kommt Sirenen klagt (die lautesten Stellen sind spärliche mp-Ereignisse) erfährt im dazu fähigen Instrumentarium (Violine, Klarinette, Klavier) eine Art Austrocknung, es verknirscht, wie Ofenbauer den Vorgang selbst beschreibt: Die Klangereignisse werden sukzessive geräuschhafter , bis schließlich in der Klarinette nur mehr der Luftstrom ohne Ton hörbar ist, auf oder hinter dem Steg gestrichene Violintöne und das arco des mit Bogenhaar präparierten Klavierbasses. Dem gegenüber stehen die zwar einerseits bis zu gehauchtem Flüstern zurü ckgenommene, in der Dauernorgani sation aber weiterhin streng eingesetzte Stimme, sowie die schon aus tec hnischen Gründen intakte Klangidentität der Hammondorgel (ein reizvoller Kontrast zum Klavier, dem Ofenbauer in seinem aktuellen Opernprojekt Penthesilea nach Kleist weiter nachspüren wird).

Die ineinander verschraubten Bewegungen der einzelnen Komponenten von Kommt Sirenen klagt münden in eine senza ritardando erreichte Schlussfermate von sieben Sekunden, die wie ein harter und kalter Schnitt wirken soll. Nicht in die Pause hineinspielen – das ganze Ensemble wie erstarrt! verlangt Ofenbauer, und schlägt damit eine letzte Kerbe gefrorener Stille in sein jüngstes Werk"
Walter Weidinger, (aus dem Hörgänge-Almanach), Werkbeschreibung, Doblinger Musikverlag, abgerufen am 07.04.2022 [https://www.doblinger-musikverlag.at/files/doblinger-musikverlag/downloads/werke/OFENBAUER_Kommt_Sirenen_klagt.pdf]

Widmung: Dr. Rudolf Führer zum 60. Geburtstag

Auftrag: Hörgänge - Musik in Österreich 1998

Uraufführung
16. März 1999 - Wiener Konzerthaus, Schubertsaal
Veranstalter: Hörgänge - Musik in Österreich
Mitwirkende: Christine Whittlesey (Sopran), Reinhold Brunner (Klarinette), Oswald Sallaberger (Violne), Wolfgang Mitterer (Hammondorgel), Johannes Marian (Klavier), Christian Ofenbauer (Leitung)

Aufnahme
Titel:
21st century portraits
Label: CapriccioNR
Jahr: 2017
Mitwirkende: ensemble xx. jahrhundert, Peter Burwik (Dirigent)

Titel: Kommt Sirenen klagt
Plattform: YouTube
Herausgeber: Ensemble XX. Jahrhundert – Thema
Datum: 14.02.2017
Mitwirkende: ensemble xx. jahrhundert, Peter Burwik (Dirigent)
Weitere Informationen: CapriccioNR