Orchestercode: 2(1.Picc, 2. Picc,BFl)/1/2(BKlar)/1, SSax(TSax) - 2/0/2/0 - 2 Perc, Hf, Akk, Pf - 3/0/2/2/1
Flöte (2), Oboe (1), Klarinette (2), Fagott (1), Sopransaxophon (1), Horn (2), Posaune (2), Perkussion (2), Harfe (1), Akkordeon (1), Klavier (1), Violine (3), Viola (2), Violoncello (2), Kontrabass (1)
ad Flöte: beide auch Piccoloflöte, 2. auch Bassflöte
ad Klainette: 2. auch Bassklarinette
ad Sopransaxophon: auch Tenorsaxophon
Bezugsquelle/Preview: Universal Edition
Beschreibung
"Für das Hören von Musik sind melodische Linien, wohltemperierte Tonhöhenraster und der Akzentstufentakt ungefähr das, was Geländer, Handlauf, gewohnte Größe und Anordnung der Stufen für das Gehen auf Stiegen sind. Die Normtreppe entbindet vom Nachdenken über Gehbewegungen; die gewohnten Proportionen von Tonhöhen und Zeitmaßen in der Musik sind nicht dazu angetan, die Aufmerksamkeit auf ihre eigene Beschaffenheit zu lenken. Der regelmäßige Puls und die Zwölfteilung der Klavieroktave werden üblicherweise ebensowenig als Besonderheit empfunden wie die Bestuhlung des Konzertsaals oder die Scheinwerfer über der Bühne.
Um sich der Komposition in vain von Georg Friedrich Haas zu nähern, kann man übrigens gleich bei den Scheinwerfern beginnen. In einer der beiden Fassungen des Stücks wird die Beleuchtung aus der gewohnten Unauffälligkeit hervorgeholt; die Lichtintensität ist in der Partitur vorgeschrieben und reicht von ‚konzertmäßiger Podiums- und Pultbeleuchtung’ bis zu völliger Dunkelheit. Die im Finstern zu spielende Musik bringt dabei nicht nur Publikum und Ensemble in eine ungewohnte Lage, sondern zunächst auch den Komponisten: erstens sollten sich die Stimmen relativ leicht auswendig lernen lassen, zweitens muss alles zu spielende mit dem Gehör kontrollierbar sein, und drittens ist es vergeblich, von einem unsichtbaren Dirigenten die Erfüllung seiner üblichen Aufgaben zu erwarten. Wenn wenige Minuten nach Beginn von in vain das Licht allmählich verschwindet, kommen die raschen, ineinander verwobenen Abwärtslinien des Anfangs zum Erliegen; es bleiben leise, liegende Töne übrig, die einander in mikrotonalen Schritten jeweils einen Halbton ausweichen. Die Musik – das bleibt auch in der (bei Wien Modern zu hörenden) Fassung ohne Lichtregie hörbar – bewegt sich in Nachtschwärze, orientiert sich von neuem, tastet sich vor.
„Fortschreiten, so was schreiten zu nennen, so was fort zu nennen. Sollte ich eines Tages, jetzt geht’s los, einfach dageblieben sein, wo, statt, einer alten Gewohnheit folgend, auszugehen, um Tag und Nacht möglichst weit von mir zu verbringen, es war nicht weit. Vielleicht hat dies so begonnen.”
(Samuel Beckett, Der Namenlose)
„Eine Tradition mikrotonaler Musik gibt es nicht. Bis weit ins 20. Jahrhundert haben alle KomponistInnen, die mikrotonal komponierten, von neuem angefangen. Auch heute noch gilt es als etwas Ungewöhnliches, Mikrotöne einzusetzen. Es ist nötig, zu begründen, warum man Töne außerhalb des temperierten Systems verwendet.” (Haas, ÖMZ 6/1999) Diese Ungewohntheit ist oft Ansatzpunkt der Kompositionen von Georg Friedrich Haas. Nicht, dass er von sich behaupten würde, die Mikrotonalität neu zu erfinden (ganz im Gegenteil: er lässt die Erfahrungen der – im Übrigen recht unterschiedlichen – Harmonik-Konzepte von zumindest Ivan Wyschnegradsky, Alois Hába, Giacinto Scelsi, James Tenney und Harry Partch in sein Komponieren einfließen). Und ebenso wenig geht es Haas um die ‚Verbesserung’ des temperierten Systems, etwa in Richtung auf den offensichtlichen Schönklang der ‚Just intonation’, der reinen Stimmung. Seine Musik lässt oft gerade die Differenzen zwischen Gewohntem und Möglichem hörbar werden, rückt genau das in den Mittelpunkt der Betrachtung, was unter Hörgewohnheiten verschüttet ist. Die erstaunliche Reduktion seines Ersten Streichquartetts – es gibt nichts, das der gängigen Vorstellung von Melodien entspräche; die Rhythmik beschränkt sich auf Beschleunigungen, Verlangsamungen und Steckenbleiben; die Tonhöhen beziehen sich auf nicht mehr als vier Grundtöne; und es gibt nur wenige Artikulationsweisen – verweist die Zuhörenden fast unweigerlich auf den Klang und auf die Form, lässt Zwischentöne von neuem hörbar werden.
„dann werde ich bevor ich mich von neuem am selben Punkt und ungefähr im selben Zustand wiederfinde nacheinander folgendes sein”
(Samuel Beckett, Wie es ist)
Einige Beispiele zur Verwendung von Mikrotönen aus in vain: In die ‚normale’ temperierte Intonation des Beginns schleichen sich zunächst fast unbemerkt einzelne (hohe) Teiltöne; je dichter diese zu Spektren zusammengeformt werden, um so mehr entsteht den gleichmäßigen Halbtönen der temperierten Stimmung die Gegenwelt der natürlichen Teiltonreihe mit ihren mit zunehmender Höhe immer kleiner werdenden Intervallen. Wie schon im Violinkonzert, stehen zwei harmonische Ausgangsmaterialien einander gegenüber: einerseits Ausschnitte von Obertonreihen, andererseits aus Tritonus und Quart/Quint gebildeten Akkorde (wie sie sich häufig auch bei Wyschnegradsky finden). Erstere gehen im wesentlichen von der Spieltechnik der Bläser aus; die Grundtöne werden oft von den tiefen Streichern gespielt. Auch die Harfe ist mikrotonal gestimmt, lediglich dem Klavier und dem Vibraphon bleiben die Obertonreihen unzugänglich. Die Beschleunigung des Tempos nach dem Ende der zweiten Dunkelphase wird schließlich so weit getrieben, bis in der Dichte der Tonfolgen der Unterschied zwischen diesen beiden Systemen wieder verschwindet.
Gerade im Übergang zu dieser letzten Dunkelphase kommt es auch zu Kombinationen verschiedener Obertonspektren – und damit zu hörbaren Reibungen. Beispielsweise spielen Hörner und Posaunen gleichzeitig das Intervall cis–e. Jedoch gehört diese kleine Terz einmal ins Spektrum des Grundtons A, einmal zum Grundton Fis (beide aus der temperierten Skala), was bedeutet, dass die beiden kleinen Terzen unterschiedlich groß sind und sich quasi ineinanderschachteln lassen, mit 1/6 beziehungsweise 1/12 Ton ‚Luft’ – und mit entsprechenden Reibungen im Zusammenklang. Hatte Haas diese Bauweise ähnlich schon in Nach-Ruf ... ent-gleitend ... mit mikrotonal versetzten Grundtönen verwendet, so sind die Grundtöne bei in vain dem temperierten System entnommen – und lassen also nichts anderes hörbar werden als die in diesem verborgene Mikrotonalität.
„Ich hatte schon gut zehn Schritte gemacht, wenn man das Schritte nennen kann, nicht schnurgeradeaus natürlich, sondern in einem recht scharfen Bogen, der, ohne mich vielleicht genau an meinen Ausgangspunkt zurückzuführen, geeignet schien, mich haarscharf an ihm vorbeiziehen zu lassen, wenn ich mich nur daran halten würde. Ich hatte mich möglicherweise in eine Art umgekehrte Spirale verwickelt, ich meine, deren Schneckenlinien, anstatt weitläufiger zu werden, immer enger werden mussten, bis sie sich nicht mehr fortsetzen könnten, auf Grund der Art Raum, in dem ich mich zu bewegen gehalten war. In dem Moment wäre ich angesichts der praktischen Unmöglichkeit weiter zu gehen, wahrscheinlich genötigt gewesen, anzuhalten, zur Not auf die Gefahr hin, sogleich in entgegengesetzter Richtung wieder aufzubrechen, oder viel später, mich gewissermaßen losschraubend, nachdem ich mich fest verklemmt hätte.”
(Samuel Beckett, Der Namenlose)
Noch einmal: Für das Hören von Musik sind melodische Linien, wohltemperierte Tonhöhenraster und der Akzentstufentakt ungefähr das, was Geländer, Handlauf, gewohnte Größe und Anordnung der Stufen für das Gehen auf Stiegen sind. Schon subtile Abweichungen vom Normalmaß, perspektivische Verzerrungen, wie sie sich bei Treppen im Vatikan oder in Odessa finden, sorgen für Irritierungen. In einer berühmt gewordenen Lithographie verbindet Maurits C. Escher das obere und das untere Ende einer Treppe zu einer Art Wendeltreppe mit nur einer Umkreisung – und führt so einen unwirklichen Mikrokosmos der Ziellosigkeit vor. (Die eigentümlichen Bilder Eschers scheinen übrigens auch etymologisch mit in vain verwandt: Salvatore Sciarrino weist darauf hin, dass ‚Vanitas’ früher eine übliche Bezeichnung für Stilleben als Genre der Malerei war.) Bei in vain – Englisch für ‚vergebens’ – finden sich solche trügerischen Spiralen in mehrfacher Hinsicht. Bis hinein in kaum wahrnehmbare Details sind weite Teile des Stücks durch miteinander verwobene, ‚unendlich’ absteigende Tonhöhenfolgen geprägt, wie sie sich ähnlich auch schon in Wer, wenn ich schriee, hörte mich... finden (nicht ohne Bezug zu den verschachtelten Aufwärtsglissandi in James Tenneys For Anne Rising.) Gegen Ende des Stückes führt ein ausgedehntes Accelerando in sich selbst zurück. Schon im Ersten Streichquartett gibt es solche Spiralformen, wird ein Tremolo so weit verlangsamt, bis die Einzeltöne den zeitlichen Abstand der ursprünglichen Tremoloimpulse haben. Bei in vain werden großflächige, ausgedehnte Prozesse mit allmählichen Verwandlungen, trügerischen Spiralbildungen – sowohl in der Tonhöhenorganisation wie in der Zeitstrukturierung – sowie das „Zurückkehren in überwunden geglaubte Situationen” (Haas) zum Formprinzip.
„... mir absolut nicht erklären konnte, wie es gekommen, dass ich meiner eigenen Spur nachgeritten. Später wurde mir dies freilich klar. Was ich für fremde Reiterspuren gehalten, waren meine eigenen gewesen. Ohne Landmarke, ohne Wegweiser war ich im Zirkel herum – und während ich vorwärts zu kommen glaubte, rückwärts geritten.”
(Charles Sealsfield, Die Prärie am Jacinto)
Wie verhält sich in vain zur ‚Musique spectrale’? Einer Antwort ist vorauszuschicken, dass im gegenwärtigen Pariser Musikleben sogar erklärte Einzelgänger sich noch zu Komponistengruppen zusammenschließen; das ist in Österreich seit langem unüblich. Kritische Auseinandersetzungen (mit der Ahnentafel oder mit den Kollegen) sind hier verbreiteter als Manifeste, Ismen werden eher gemieden als Äquidistanz.
In Darmstadt lernte Georg Friedrich Haas 1980 die Klangwelten von Gerard Grisey und Tristan Murail durchaus schätzen. Den detaillierten Computeranalysen realer Klänge, die von beiden als Ausgangsmaterial für Instrumentationen herangezogen wurden, stand bei Haas aber die hörende Erfahrung des Gesamtklangs entgegen: „Ich vertraue Klanganalysen ebensowenig, wie ich Reihentabellen vertraue”, sagt Haas, und verweist darauf, dass die Übertragung der analytisch entdeckten Teiltöne (etwa eines Posaunenklangs) in eine Instrumentation ohnehin zu völlig anderen Klängen führt. Der Vergleich mit den Reihentabellen trifft einen nicht unwesentlichen Aspekt des ‚Spektralismus’, ist doch der Serialismus einer der wesentlichen Referenzpunkte für Hugues Dufourts manifestartigen Text ‚Ästhetik der Transparenz. Spektrale Musik’ von 1979 (gewissermaßen als Auseinandersetzung mit der Ahnentafel). Eine Vorliebe für Zahlen hat Georg Friedrich Haas durchaus; die implizite Zahlensymbolik reicht bei in vain bis in die Beziehung der Besetzungsgröße (24 Instrumente im Dunkeln, plus Dirigent im Hellen) zum mikrotonalen Intervall 24:25 hinein. Trotz aller strengen Konstruktion gehört aber Serielle Musik deutlich weniger zu den Bezugspunkten des Musikdenkens von Georg Friedrich Haas als beispielsweise Alois Hábas Formideal des freien Schweifens ohne thematischen Zusammenhalt. Und als Quelle für instrumentierte Obertonreihen verweist Haas zuerst nicht auf Tristan Murail, sondern auf Franz Schubert.
es schneit, dann fällt der regen nieder,
dann schneit es, regnet es und schneit,
dann regnet es die ganze zeit,
es regnet und dann schneit es wieder.
(Ror Wolf, wetterverhältnisse)
Werkeinführung (Bernhard Günther, 2000), Universal Edition, abgerufen am 30.09.2021 [https://www.universaledition.com/georg-friedrich-haas-278/werke/in-vain-7566]
Auftrag: WDR - Westdeutscher Rundfunk
Widmung: Meinem verehrten Lehrer Friedrich Cerha in Dankbarkeit gewidmet
Uraufführung
29. Oktober 2000 - Funkhaus Wallrafplatz, Köln (Deutschland)
Mitwirkende: Klangforum Wien, Cambreling Sylvain (Dirigent)
Weitere Informattionen: Aufführung mit visueller Umsetzung (Lichtregie)
Simon Rattle über "in vain" von Georg Friedrich Haas
Plattform: YouTube
Herausgeber: Berliner Philharmoniker
Datum: 18.01.2013
Empfohlene Zitierweise
mica (Aktualisierungsdatum: 30. 9. 2021): Haas Georg Friedrich . in vain. In: Musikdatenbank von mica – music austria. Online abrufbar unter: https://db.musicaustria.at/node/140990 (Abrufdatum: 24. 11. 2024).